Eine Anzeige wegen Belästigung

Sensationsberichte, ein überzogener Polizeieinsatz und die täglichen Probleme mit sexueller Gewalt und Reibereien im Neuköllner Kiez  ■ Aus Berlin Eberhard Seidel-Pielen

„In der vergangenen Nacht versuchten bewaffnete türkische Jugendliche den Polizeiabschnitt 55 in der Rollbergstraße in Neukölln zu stürmen“, berichten Berliner Radiostationen am Morgen des 24. Juli. Eine neue Dimension von Gewalt? Einen Tag später liefert die BZ-Berlin anschauliche „Hintergrundinformationen“: „Ein wütender Mob belagert die Wache: pöbelt, schreit, hämmert gegen die Tür. Die Jugendlichen sind mit Knüppeln und Messern bewaffnet. Ihr Ziel: Sie wollen vier festgenommene Sex-Gangster befreien.“

Die Presseberichte klingen plausibel. Schießereien, Gangs arabischer und türkischer Jugendlicher, Überfälle, Vergewaltigungen, Treffen von Neonazis, Schlägereien – all das und vieles mehr hat es in den letzten Jahren in Neukölln gegeben.

Heike S. wird belästigt und erstattet Anzeige

Dennoch sind die Straßenzüge um den Körnerpark meist ein relativ beschaulicher, im Alltagsleben eher kleinbürgerlicher Kiez. Der im Rokokostil, zwischen Jonas- und Schierker Straße angelegte kleine Park ist Treffpunkt der Nachbarschaft. Eine Idylle ist die Gegend trotz alledem nicht. Marion M.*, regelmäßige Besucherin des Parks, klagt über eine Clique junger Männer, die sich am Eingang trifft: „Wenn ich an denen vorbeigehe, werde ich immer wieder mit Sprüchen wie ,Komm, fick mich!‘ angemacht.“ Aus Angst, weitere Reaktionen zu provozieren, schweigt sie.

Unangenehme Erfahrungen machte auch die 35jährige Karin B.*: „Als ich neulich die Treppe hochging, explodierte neben mir ein Feuerwerkskörper.“ Erschrocken stellte sie die Gruppe zur Rede, so was sei kein Kinderspiel, das hätte ins Auge gehen können. Die Reaktion der Jugendlichen: „Du Ausländerfeindin! Rassistin!“ Einer der Jugendlichen baute sich vor ihr auf, hob den Arm zum „Deutschen Gruß“ und brüllte „Heil Hitler!“

Am Montag, den 22. Juli, wird die Grenze verbaler Anmache überschritten. Gegen 22 Uhr wird die 18jährige Heike S. von zwei 15jährigen, Ahmet K.** und Selim A.**, in der Schierker Straße beschimpft, begrapscht, als sie sich wehrt, schließlich auch geschlagen und bespuckt. Sofort erstattet sie Anzeige.

Dienstag, 23. Juli. Gegen 19 Uhr begegnet Heike S. Ahmet K. und Selim A. erneut. Die beiden treiben sich erst seit ein paar Tagen in der Gegend und im Umfeld der Clique vom Körnerpark herum. Ahmet K. wohnt in Hanau, Selim A. am etwa zwei Kilometer entfernten Hermannplatz. Heike S. flüchtet in ein Café, ruft die Polizei und bittet: „Kommen Sie in Zivil.“ Die junge Frau wünscht, daß die Festnahme diskret über die Bühne geht. Verständlich. Schließlich wohnt sie um die Ecke.

Sie gibt dem Zivilbeamten, der zu ihr eilt, genaue Informationen. Sie nennt den Ort, wo sich Ahmet und Selim aufhalten, beschreibt ihre Kleidung. Der Beamte gibt alles per Funk an die Kollegen weiter. Während Heike S. in einem Café darauf wartet, daß ihre Peiniger einkassiert und abtransportiert werden, eskaliert in der über dem Körnerpark liegenden Schierker Straße die Situation. Die Presse wird später schreiben, daß ein 100köpfiger türkischer Mob „vier Sex-Gangster“ befreien wollte.

Aber darum ging es zu keinem Zeitpunkt. Der Anwohner Fernando N.: „Die Polizei wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und hier mal klar Schiff machen.“ Warum? „Es gab hin und wieder Ärger mit Jugendlichen, die auf dem Rasen des Körnerparks Fußball spielen. Anstatt den Jungs, wenn sie sich daneben benehmen, deutlich zu sagen, das läuft hier nicht, oder nun ist Schluß, schlucken die Deutschen lieber alles runter oder rufen anonym nach der Polizei. Die haben ständig Angst, als Ausländerfeinde beschimpft zu werden.“

Zurück zum Polizeieinsatz. Neben den beiden Tätern, Selim A. und Ahmet K., werden Metin M.** und Fatih E.**, Recep R.** und Orhan E.** verhaftet. Als Heike S. von den Beamten zu den Funkwagen geführt wird, um die Täter zu identifizieren, ist sie irritiert. „Was suchen denn Recep und Orhan hier?“ fragt sie die Beamten. Heike S. kennt Recep (19) und Orhan (17) seit Jahren. Und sie kennt sie als die Ruhigsten und Besonnensten aus der Clique vom Körnerpark.

Ihr Einspruch wird überhört. Zwei Verhaftungen wären mindestens zwei zuwenig gewesen. Denn die Beamten wurden offensichtlich mit Falschinformationen über eine versuchte Gruppenvergewaltigung durch vier junge Türken auf den Einsatz vorbereitet.

Stunden später, auf der Wache in der Rollbergstraße, ist Heike S. erneut überrascht. „Auf dem Schreibtisch lag so ein dünner Zettel, ein Computerausdruck, da stand etwas von Vergewaltigung und vier Tätern. Ich habe dem Kripobeamten gleich erzählt, daß das so nicht stimmt, daß ich dies schon bei der Anzeige erklärte und von zwei Tätern sprach. Er hat das dann gleich aufgeschrieben.“

Zu spät. Auch in der Polizeimeldung an die Presse vom 24. Juli wird stehen: „Eine 18jährige Frau aus Neukölln hatte zuvor vier Türken, 15, 19 und 22 Jahre alt, von denen sie sexuell bedrängt wurde, wiedererkannt.“ Auf Grundlage dieser Meldung werden später die Zeitungen ihre ausgeschmückten Versionen von der Straßenschlacht, der versuchten Gefangenenbefreiung und der Belagerung der Polzeiwache verbreiten. Heike S.: „Nichts davon, was in der Presse über eine Straßenschlacht am Körnerpark und den Sturm auf die Polizeiwache, auf der ich bis 23 Uhr saß, stand, kann ich bestätigen.“ Alles, so räumt sie ein, habe sie allerdings auch nicht überblicken können.

Aus einer Festnahme wird ein Großeinsatz der Polizei

Sie fühlt sich inzwischen wie eine Statistin in einem schlechten Film. Nicht genug, daß sie die Demütigungen und Belästigungen verarbeiten muß. Inzwischen nagen Schuldgefühle an ihr. Und das Gefühl, daß ihr Fall von Polizei und Presse mißbraucht wurde: „Ich konnte nicht ahnen, was meine Anzeige alles nach sich zieht. Die Leute starren mich an, als wäre es mir auf die Stirn geschrieben.“ Entnervt hat sie deshalb neulich ihre Schicht im Garten-Café des Körnerparks abgebrochen.

Recep, mit dem sie gemeinsam zu unserem Gespräch kommt, beruhigt sie: „Du hast richtig gehandelt.“ Auch er ist seit den Presseberichten gebrandmarkt. „Habt ihr die Frau wirklich vergewaltigt?“ Freunde, Nachbarn, keiner läßt locker. „Nichts, was in der Presse über uns steht, ist wahr“, beteuert Recep, der als Produktionshelfer in einem pharmazeutischen Betrieb arbeitet. Und nichts deutet darauf hin, daß er, zumindest was seine Rolle betrifft, die Unwahrheit sagt. Allerdings spricht alles dafür, daß der Polizeieinsatz an jenem Abend aus dem Ruder geraten ist.

Recep R.: „Zunächst kamen ein Mannschaftswagen und zwei Wagen der Kripo, um Ahmet und Selim festzunehmen.“ Die Polizei wird später in ihrem Bericht melden: „Die beiden 15jährigen konnten widerstandslos festgenommen werden. Die beiden Komplicen leisteten heftigen Widerstand.“ Recep R.: „Nach der Festnahme von Ahmet und Selim kamen die Polizisten dann zu uns rüber. Ich wurde von einem Zivi kontrolliert, gegen ein Auto gelegt. Dabei ist der ausgerutscht. Sofort sind einige Polizisten hinzugesprungen und haben mich zusammengeschlagen.“

Von den prügelnden Polizisten und der Aufregung angelockt, kommen Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem Park, vom benachbarten Spielplatz und dem Bolzplatz. Sicher fallen böse Worte gegen die Polizisten, als die Leute sehen, wie Orhan E., Recep R., Fatih E. und Metin M. festgenommen werden. Die Nachricht, daß deutsche Polizisten wieder einmal Türken schlecht behandeln, verbreitet sich schnell in den umliegenden Straßen. Aus allen Ecken eilen Menschen zum Körnerpark. „Die Schierker Straße war voll von Türken. So was habe ich noch nicht erlebt“, erinnert sich Beate M.

Eine Polizistin bekommt es angesichts der erregten Menge mit der Angst zu tun und ruft über Funk Verstärkung. Recep R., der in dem Wagen sitzt: „Das hat sich angehört, als herrsche hier Krieg.“ Sieben Mannschaftswagen preschen heran. Mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten springen heraus und rufen: „Wo, was ist los?“

Die Polizei fordert die Menge zum Verlassen der Straße auf. Erwachsene, die die Dienstnummern von Polizisten fordern, werden höhnisch beschimpft. Jugendliche, die den Platz des Geschehens verlassen, werden von Greiftrupps in die umliegenden Straßen verfolgt. Über das, was dort im einzelnen geschieht, steht Aussage gegen Aussage. Ein 13jähriger macht einen türkischstämmigen Polizisten an: „Du Vaterlandsverräter!“ Der antwortet auf türkisch: „Paß auf, wenn ich zu dir komme, ficke ich dich in den Arsch.“

Kurz vor 23 Uhr gehen Receps Bruder, die Väter von Orhan und Fatih sowie drei Freunde zu der ein paar hundert Meter entfernten Wache in der Rollbergstraße. Sie wollen sichergehen, daß die vier nicht weiter mißhandelt werden. Unter ihnen ist Birol Senel (34), Vorsitzender des Fußballvereins „Bizim Genclik“ und zweiter Vorsitzender der „Neuköllner Sportsfreunde“. Senel: „Vor allem Fatihs Vater war nervös.“ Der Grund: „Fatih ist Epileptiker, er braucht ständig seine Medizin.“

Auf der Wache herrscht nach dem verkorksten Einsatz noch immer Aufregung und Verunsicherung. Das Auftauchen der erregten Angehörigen trägt nicht zur Beruhigung bei. Der Abschnittsleiter Bernd Grigoleit kommt in Jogginghose direkt aus seinem Feierabend in die Rollbergstraße. „Ich dachte, ihr macht Probleme“, erklärt er Birol Senel seinen unkonventionellen Auftritt. Er rät den Anwesenden, Anzeige zu erstatten, falls die Festnahmen sich wie geschildert abgespielt haben sollten. Um die Lage zu entspannen, bekommt Senel die Erlaubnis, die vier festgenommenen Jugendlichen in den Einzelzellen kurz zu besuchen. Die Polizeipressestelle wird am 24. Juli melden: „Vor dem Polizeiabschnitt 55 kam es zu einer Ansammlung von 15 bis 30 Personen, die teilweise sehr aggressiv waren.“ In einem Leserbrief vom 26. Juli an die BZ-Berlin stellt Abschnittsleiter Bernd Grigoleit allerdings klar: „Die Wache wurde weder überfallen noch belagert.“

Die Polizei ist präsent – die Jugendlichen sind sauer

Beruhigt hat sich die Situation am Körnerpark bis heute nicht. Anstatt mit den Jugendlichen den Einsatz aufzuarbeiten, zeigt die Polizei Präsenz. Fast täglich fahren Mannschaftswagen vor. Leibesvisitationen, Personalkontrollen. Einige Kiezbewohner begrüßen die Polizeipräsenz: „Seitdem treten die Jungs leiser.“ Leiser sind sie vielleicht, aber auch gereizter.

Senel redet im Vereinscafé des Fußballklubs „Bizim Genclik“ in der Nogatstraße auf die Jugendlichen ein: „Laßt euch von den Polizisten nicht provozieren. Die warten nur darauf, euch etwas anzuhängen. Die wissen genau, daß sie Mist gebaut haben.“ Im „Bizim Genclik“ ist ausschließlich das erlittene Unrecht und die verfälschende Presseberichterstattung Thema hitziger Gespräche. Es wird viel über Rassismus geredet. Selbstkritische Töne zum eigenen Dominanzverhalten, zur eigenen Rolle, die zum Unbehagen im Kiez beigetragen haben, bleiben ausgespart.

Vor allem die berüchtigten Rabauken Fatih E. und Metin M. aber können kaum auf Mitgefühl im Kiez hoffen. Viele denken wie Marion M.: „So wie die sich aufgeführt haben, geschieht ihnen das mal ganz recht.“

(*Namen und **Nachnamen von der Red. geändert)