Die Arbeit mit der Aufarbeitung

■ Beschäftigungen mit Vergangenheit: die neue Nummer von Mittelweg 36

Da stehen sie aufgeräumt unter einem Wegweiser, zwei Männer und eine Frau, und blicken direkt in die Kamera. Der Blick der Frau ist fast lächelnd, vielleicht aber auch nur ein Resultat der Sonne. Der Wegweiser im Hintergrund wirft einen klaren Schatten. Er, dieser Wegweiser ist es, der das Bild besonders macht: „Auschwitz 17,2 km“. Monströs wird das Ganze im Zusammenhang eines Artikels mit der Überschrift „Wir alle stellten uns die bange Frage: Wohin?“ In dem Artikel geht es nicht etwa um die Überlebenden des Lagers, sondern um das Leben der Deutschen im nahen Gleiwitz, die vor den Russen fliehen wollten. „Die Rhetorik des Schweigens“ nennt Klaus Naumann seinen Artikel in der letzten Nummer von Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, in dem er die Frage erörtert, inwieweit die Lagerbefreiungen „im Gedächtnisraum der Presse 1995“ vorkommen. Sein Fazit: gar nicht. Anlaß zu einer Auseinandersetzung wäre im letzten Jahr das „Gedenkjahr“ gewesen, das – 50 Jahre nach Kriegsende – natürlich auch ein Gedenkjahr für den Einmarsch der Alliierten war, für die Kapitulation vom 8. Mai, und eben die Befreiung der Lager. Schlüssig dekonstruiert Naumann den konstruierten „Gedenkraum“ dieses Jahres, untersucht die Metaphern des Schweigens, der Stille und der Leere, die einen Großteil der Pressetexte zum Gedenkjahr „durchziehen“ und durchleuchtet die „mediale Skulptur“.

Der Umgang mit den Traumata der Vergangenheit ist das Hauptthema dieser Ausgabe, dem fast fünfzig Seiten gewidmet sind. Eröffnet wird die Beschäftigung von Omer Bartovs Trauma und Leere seit 1914. Bartov stellt sich die Frage, weshalb Jean Rouauds gefeierter Familienroman Die Felder der Ehre auch beim breiten Publikum ein solcher Erfolg war – und führt dies auf die „wachsende Bedeutung“ zurück, „die Erinnerung sowohl als geistiger Prozeß wie auch als literarischer und gelehrter Tropus im Frankreich des gegenwärtigen Fin de Siècle erfährt“.

Bernd Genton wendet sich in seinem Text Die Kultur des schlechten Gewissens dagegen der direkten Aufarbeitung, dem unmittelbaren „Gedenken“ gleich nach Ende des 2. Weltkriegs zu. Er untersucht drei Werke aus dem Berlin des Jahres 1946: den Gedichtband Moabiter Sonette von Albrecht Haushofer, eine Berliner Inszenierung von Günther Weisenborns Die Illegalen im März 1946 und den Filmklassiker Die Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte, den ersten deutschen Spielfilm der Nachkriegszeit. In allen drei Werken geht es um das „Gewissen“ derjenigen, die nun auf den Ruinen des eben Geschehenen auf irgendeine Weise mit der Vergangenheit fertig werden müssen. Während Haushofer seine Gewissensqual formuliert, nicht dann etwas gesagt zu haben, als er es hätte tun sollen, beruhigt Günther Weisenborn das Gewissen, indem er die heroischen Handlungen einer Minderheit in den Vordergrund stellt. Staudtes Film liefert dagegen gleich auch noch Modellideen für einen Neuanfang mit sowie eine Deutung des Nationalsozialismus. Alle drei Werke – das arbeitet Genton heraus – können als früheste Äußerungen der „Aufarbeitungskultur“ auch Beispiele der spezifisch deutschen „Kultur des schlechten Gewissens“ sein.

Neben den Beiträgen zum Hauptthema stehen die umfassende Literaturbeilage Einblicke (u.a. über das Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus), aber auch Jan Philipp Reemtsmas Nachruf auf Arie Goral: Als Mittelweg ist diese Instituts-Zeitschrift, wie immer auch für Nicht-Fachleute lesenswert.

Thomas Plaichinger