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Bettnässen: sechs Hiebe

■ 400 Jahre alt! Das „Rote Waisenhaus“, heute Stiftung Alten Eichen, hat Geburtstag

Faulheit: einen Sonntag Hausarrest sowie einen Tag Wasser und Brot. Unfug in der Betstunde: eine Stunde Kartoffelstube ohne Licht. Stehlen und Leugnen: 25 Rückenhiebe und Isolation. Bettnässen: 6 Hiebe vor aller Augen.

Drakonische Strafen stellten noch im letzten Jahrhundert einen beträchtlichen Bestandteil der Pädagogik dar, die in Waisenhäusern zur Anwendung kam. Und doch bedeuteten Waisenhäuser, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert überall in Deutschland entstanden, auch einen Fortschritt für die Betroffenen. Einen Überblick über – höre und staune – 400 Jahre Kinder- und Jugendfürsorge erhält, wer sich die Geschichte des 1596 gegründeten Bremer „Roten Waisenhauses“ ansieht. Ende August feiert das heutige Heim „Alten Eichen“ in Bremen-Horn seinen 400. Geburtstag. Pünktlich zum Jubiläum erschien jetzt bei Hauschild eine materialreiche Chronik des ersten Bremer Waisenhauses.

Alten Eichen ist heute, wie Heimleiter Manfred Latzke formuliert, eine moderne „Jugendhilfeeinrichtung als Partner des Amtes für soziale Dienste – wenn denen nichts mehr einfällt. Die Heimerziehung ist die letzte und die teuerste Möglichkeit.“ Sie arbeitet fortschrittlich mit familienähnlichen Wohngruppen, 80 Mitarbeiter kümmern sich um 40 bis 60 Jugendliche. In der Regel interessiert sich die Öffentlichkeit kaum für ein Heim wie dieses. Doch einmal im Jahr, vor Weihnachten, kommt Alten Eichen groß raus mit seiner traditionellen „Kälberverlosung“. In alten Zeiten erzielte man mit der Verlosung der nebenbei gemästeten Tiere existenzsichernde Erlöse. Heute kommen rund 4.000 Mark Weihnachtsgeld dabei rum. Im Heim selbst erinnert noch anderes an die stolze Tradition der Einrichtung: In Vitrinen können die Zöglinge von heute einst gebräuchliche Ochsenziemer betrachten und andere pädagogische Hilfsmittel.

Es war ein italienischer Baron, den, als Gegner von „des Papstes Abgötterei“ aus seiner Heimat getrieben, in Bremen das Mitleid mit den Armen und Waisen packte. Sein Testament vom 27. Oktober 1596 ermöglichte der Stadt Bremen, ihr erstes Waisen haus aufzubauen. Es war zu der Zeit üblich, Waisen-kinder entweder in Pflegefamilien zu stecken; oder in ein Hospital, wo sie ohne Erziehung und Betreuung unter Alten, Armen und Kranken aufwuchsen. Ihre Perspektive war die Bettelei. Elternlose, erst recht uneheliche Kinder wurden oft schon gleich nach der Geburt getötet oder ausgesetzt. Das Rote Waisenhaus (Rot war die Farbe der Anstaltskleidung) war die erste Bremer und eine der ersten deutschen Einrichtungen, deren Ziel es war, die Kinder (zunächst im Beten) zu unterrichten und ihre Zukunft abzusichern. Die Jungen sollten ein Handwerk lernen, die Mädchen das Dienen.

Viel ist aus der Gründungszeit nicht überliefert. Die erste Unterkunft befand sich in der Nicolaikirche am Brill, in der Hutfilterstraße. 1611 lebten dort 40, hundert Jahre nach der Gründung schon 118 Kinder. Im Laufe der 400 Jahre trug das Rote Waisenhaus verschiedene Namen („Reformiertes Waisenhaus“ im Gegensatz zum später gegründeten lutherischen Petri-Waisenhaus, dann „Mädchenwaisenhaus“); in den 60er Jahren beherbergte es die Kinder von Schiffern und Schaustellern.

Den größten Teil dessen, was die Autorin der Chronik, Angelika Timm, über die Geschichte des Roten Waisenhauses zusammentragen konnte, fand sie in den manchmal recht detaillierten Tagebüchern der Heimleiter. Nur gelegentlich interessierte sich die Öffentlichkeit für die Waisenkinder, so auch anläßlich des jährlich stattfindenden „Lustigen Tages“. 1836 notierte der Hausvater: Morgens vier Uhr wurde zum Aufstehen geläutet. Mehr wie sonst bemerkte man die Glocke respectieren, und im Nu war der Schlafsaal leer. Das Mobilmachen erforderte nur einen Augenblick, um militärisch auf dem Hof in Rei und Glied aufgestellt zu werden ..... 5 Uhr precise wurde das Signal zum Abmarsch gegeben und die Hausthüren geschlossen. Eine Menge Zuschauer hatten sich eingefunden, den Abzug zu sehen ... Bei Ankunft der Kinder zur Vahr wurde sofort für Frühstück gesorget. Wie die Tagespresse 1883 berichtete, gab es für die Kinder am Lustigen Tag Caffee und Butterkuchen, Caroussel und Schaukel sowie Topfschlagen. Die lustigen Tage wurden so lustig, daß die Heimverwalter darüber nachdachten, sie wieder abzuschaffen.

1904 zog das „Mädchenwaisenhaus“ vom Brill in das „ruhige, luftige und gesunde Horn“ um. Das alte Waisenhaus wurde an die Sparkasse verkauft, die auf derselben Stelle ihre (heutige) Hauptgeschäftsstelle errichtete. Der Neubau in Horn (heute Grundschule) bestand aus hohen, hellen, großen Räumen. Die fortschrittliche Kleingruppenpädagogik, damals durchaus schon diskutiert, war in Bremen noch nicht angekommen.

In den 20er Jahren passierte, was wir auch heute kennen: Die Heimunterbringung erschien der Stadt zu teuer. Kinder wurden wieder bevorzugt in Pflegefamilien untergebracht. Das Heim in Horn stand fast leer. 1928 zog das Mädchenwaisenhaus in eine benachbarte Apothekervilla um. Genau hier, an der Horner Heerstraße 19, findet man heute die Jugendhilfe-Einrichtung „Alten Eichen“.

BuS

Angelika Timm, 400 Jahre - Vom Roten Waisenhaus zur Stiftung Alten Eichen 1596-1996. Hauschild, Bremen, 34 Mark.

Tag der offenen Tür: 24. August ab 14 Uhr. Festakt 31. August, 11 Uhr, Ansgarii-Kirche, Hollerallee, mit Bürgermeister.

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