Matjes und Chaos-Design

■ 1,3 Mio Besucher in Groningen können nicht irren: Es locken Blumen-Markt, autofreie Innenstadt, Designer Museum und in den nächsten Wochen das Festival „A Star is Born“.

„Den Matjes müßt ihr gleich am ersten Stand essen. Die dicke blonde Marktfrau ist einfach toll. Und nehmt nicht den billigen dänischen, sondern wirklich den niederländischen Matjes“ Mit Matjes weckt man auch bei Henk Scholte patriotische Gefühle. Der Groninger Balladensänger, Autor und Philosph und seine Gefährtin, die Malerin Jakobine von Dömming, gehören zur Creme der Groninger Szene. Bis spät in die Nacht werden in ihrem schmalen Altstadthaus bierselige Projekte geschmiedet. Zwischen Bücherwänden, Töpferkannen und Bilderrahmen führen die beiden zum Entzücken der ständigwachsenden Schar ihrer Freunde ein offenes Haus. Offen ist man nicht nur für Durchreisende, sondern auch für alle Hervorbringungen der Off-Szene, aber auch der offiziellen Kulturprojekte. In Groningen gehen große und alternative Kultur Alliancen ein, an die in Bremen nicht zu denken wäre. Am „Grotemarkt“ und am „Vismarkt“, wo schon seit Jahrhunderten Matjes probiert wird, liegen all die Pluspunkte, die die Stadt für Einwohner und Touristen attraktiv machen. Seit der Eröffnug des neuen Groninger Museums vor zwei Jahren gibt es ein zweites Kunst-Zentrum gegenüber vom Bahnhof, mitten im Wasser.

In den letzten zehn Jahren stiegen die Besucherzahlen um das Zehnfache, auf 1,3 Millionen im Jahr. Die Eröffung des „Groninger Museums“, einer Kooperation von drei Star-Designern unter der Regie des Italieners Mendini wurde von CNN live übertragen. Und mittlerweile zählen die Groninger an Samstagen bis zu zwanzig Busse aus Deutschland vor der Tür. Beim gerade eröffneten Festival, bei dem die Niederländer die Umgestaltung der Altstadt zum Anlaß für das open-Air Theaterfestival „A Star is born“ nehmen, werden es noch mehr sein.

Tradition hat dabei nicht nur das Rezept, sondern auch der Spielort mitten in der Stadt. Neu ist dabei jedoch in Groningen das Bewußtsein der eigenen Stärke und die Inszenierung der Stadt.

In den 70ern, als der grenznahe Tourismus im Wesentlichen dem anregenden Angebot der holländischen Coffeeshops galt, tat sich in Groningen Revolutionäres: Zentrale Regionen wurden zur autofreien Zone erklärt, und auch in den restlichen Bereichen im inneren Altstadtring dominierten Einbahnstraßen. Natürlich klagten damals die Geschäftleute. „Wir waren damals Vorreiter in Holland“, sagt heute Jan Kappenburg vom Fremdenverkehrsverein. „Groningen, das war für alle die Stadt, in die man nicht hineinfahren konnte.“ Zwanzig Jahre lang ist man einfach stur geblieben. Heute ist die Fahrradstadt berühmt, ein kostenloser Shuttlebus fährt zu dezentralen Parkplätzen. Das Modell findet Nachahmer, zum Beispiel im niedersächsischen Oldenburg, und wird von den Touristen als „gemütlich“ gelobt.

Der große Obst-, Blumen- und Flohmarkt auf dem zentralen Areal im Herzen der Altstadt ist dabei noch immer der zugkräftigste Magnet. Besonders am Samstag, wenn auch in den kleinen Gäßchen der Altstadt Antiquariarte, Galerien und CD-Shops bis 17 Uhr verkaufen. Das war schon immer so, schließlich haben die deutschen Ladenschlußzeiten manchen über die Grenze getrieben und waren jahrelang eine Motivationshilfe für den kleinen Grenzverkehr. Statt der Tante-Emma-Preise auf deutschen Märkten überbieten sich hier die Blumenhändler zum Feierabend mit Billigangeboten. Ein Kilo Bananen für eine Mark, rechnet die Hausfrau und findet mit schweren Taschen: die Reise hat sich gelohnt.

Seit vor fast zwei Jahren das neue Groninger Museum eröffnete, gilt es, die Hände von Paketen frei zu halten für einen Besuch. Im Oktober 1994 eröffnet, entpuppt sich das Groninger Museum nach anfänglichem Widerstand der Anwohner, die durch den kunterbunten Bau die Sicht auf den alten Yachthafen verschandelt sahen, als Publikumliebling. Der für eine kleine Stadt wie Groningen mit 170.000 Einwohnern wagemutige Bau erweist sich als Bestseller für die Touristen. Kamen in den alten Bau des städtischen Museums vor zehn Jahren 58.000 Besucher, so drängten sich 1995 360.000 Schaulustige im Foyer des neuen Groninger Museum. Das war auch für die Museumsleute eine Überraschung, mit 100.000 hatte man gerechnet. Schuld daran sind kaum die ausgestellten Objekte - eine Porzellansammlung, die durchaus beachtliche Sammlung moderner Kunst und Töpfe und Krüge aus der frühen Stadtgeschichte Groningens -, sondern ausschließlich deren Präsentation. Die allerdings besorgten die Größten der Branche. Als die niederländische Gasunion, der reiche Rohstoffproduzent der Region, der Stadt zum 25. Geburtstag 25 Millionen Gulden schenkte entschied man sich für den großen Wurf. Man beauftragte den italienischen Designer und Architekten Alessandro Mendini. Das Resultat des für Stilmix bekannten Künstlers: ein Gemeinschaftswerk, bei dem die Designer - der französische Philippe Starck, Michele De Lucchi aus Italien und der niederländische Coop Himmelblau - jeweils für einen Bereich der Sammlung ein einzelnes Gebäude schufen und vor allen Dingen die Museums-Präsentation gestalteten. Design-Vielfalt als Prinzip. Was sich von Außen als wilde Mixtur aus Aluminium-Torte, goldenem Turm und verwirrend dekontruktivistischer Brücke darstellt, findet eine Entsprechung im Inneren. So kommt es für den Besucher zu völlig neuen Kombinationen: das Porzellan schwebt vor weiten wehenden Gardinen. Die archäologischen Funde werden in abgedunkelten Höhlen wiedergefunden und die alten Stilmöbel stehen in einem weiten Loft vor unbehandelten Stahlwänden aus einer Schiffswerft. Doch so groß der ästhetische Schock für den bürgerlichen Blick sein mag, genau hier liegt der Reiz für all die, die sich sonst nicht in ein Museum wagen. Spielerische Leichtigkeit wird ganz groß geschrieben. „Für alle die, die hier arbeiten, ist der Bau selbst die beste Aufheiterung“, sagt Josee Selbach, die die Öffentlichkeitsarbeit im Mueum macht. Damit der Groningenbesucher seine statistisch errechneten 44 Gulden auch im Museum läßt, lockt ihn der Museumsshop, bestückt mit einer attraktiven Mischung aus Designerobjekten für die heimische Küche. Selbstverständlich hat man diese Goldgrube nicht verpachtet, sondern verdient hier 30 Prozent der Museumseinnahmen selbst.

Gerade wurde das Open-air Theaterfest „A star is born“ eröffnt. In den nächsten Wochen soll hier wieder die alte Umsonst-und-Draußen Maxime gelten. Als Anlaß dient dabei die Eröffnung der Waagstraat am historischenMarkt . Hier durfte die Bevölkerung abstimmen und entschied sich, wie auch in Deutschland bei ähnlichen Publikumsbefragungen üblich, für die spießige Lösung, den historisierenden Architektenentwurf. Daran hat auch das Lob, das dem Museum von außerhalb gezollt wird, nichts geändert. Beim open-air „A star is born“ Festival trifft zur alternativen Festival-Tradition dann noch das moderne Design. Der amsterdammer Architekt Rem Kohlhaas und der Fotograph Erwin Olaf schufen ein kleines architektonisches Schmuckstück - das neue Pissoir an der Reitemakersrijge - schon jetzt wird es von allen geliebt.

Mit nur 3 Millionen Gulden wurde Beachtliches auf die Beine gestellt: vier ständige Bühnen sind in der Stadt installiert, sieben Wochen lang wird an allen Ecken und Enden gespielt oder musiziert. Zum Abschluß vom 20. bis 22. September wird die Gruppe „Royal de Luxe“ eine riesige italienische Operszenerie auf dem Marktplatz errichten und die Oper „Norma“ von Bellini geben. Doch auch hier wartet eine Überraschung auf den Besucher: „Norma“ wird duften - eine Geruchsmaschinerie soll jeden Handlungsort der Oper mit typischem Duft untermalen. Die Schlachtszenen werden nach Pferdestall duften, die Liebesszenen nach Rosenduft - so weit zu „Norma“ in Groningen.

Susanne Raubold