Die Häkelmuster des Widerstands

War Leipzig die wahre Hauptstadt der DDR, wie Uwe Johnson sagte? Die dortige Kunst- und Literaturszene eroberte geschickt die Freiräume. Ein Bildband rekonstruiert jetzt die „andere Kultur“ der Stadt zwischen 1971 und 1990  ■ Von Peter Walther

Wenn heute von Subkultur in der ehemaligen DDR die Rede ist, fällt der Blick unwillkürlich auf den Prenzlauer Berg. Dabei gab es wenigstens noch zwei weitere Zentren, in denen sich abseits der staatlich geförderten Kultur eine Szene bilden konnte: Dresden und Leipzig.

Die bildungsbürgerliche Tradition Leipzigs, von Uwe Johnson einst „die wahre Hauptstadt der DDR“ genannt, ist in den 60er Jahren abrupt abgebrochen worden. Die alte Garde der Universität, Hermann August Korff, Theodor Frings, oder unorthodoxe Marxisten wie Ernst Bloch und Hans Mayer waren schon Anfang des Jahrzehnts vergrault worden. Die Sprengung der völlig intakten Universitätskirche im Mai 1968 schloß das Zerstörungswerk ab. Aber in dieser Stadt mit einer der größten Universitäten der DDR, einer Kunst- , Musik- und Theaterhochschule, dem Literaturinstitut und den Messen, die Tausende von westlichen Gästen besuchten, konnten längst nicht alle kulturellen Regungen unter Kontrolle gehalten werden.

Das Material, auf das die Herausgeber des Bands zurückgreifen konnten, ist so umfangreich, daß eine Beschränkung auf bildende Kunst und Literatur notwendig wurde. An der Hochschule für Graphik und Buchkunst hatte sich unter dem Rektorat von Bernhard Heisig Anfang der sechziger Jahre eine undogmatische Lesart des sozialistischen Realismus als „Leipziger Schule“ durchgesetzt. Aus ihr sind Künstler wie Michael Morgner, Thomas Ranft, Lutz Dammbeck oder Frieder Heinze hervorgegangen, die in den 70er und 80er Jahren zu den wichtigen Akteuren einer anderen, vom Staat beargwöhnten Kunst gehörten. Als Kommunikationsorte dieser Kunst haben sich seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Produzentengalerie „Clara Mosch“ und – im außerakademischen Bereich – die Gartengalerie von Günther Huniant im Leipziger Vorort Stötteritz etabliert. Dabei agierten die Künstler bei ihren Unternehmungen – bei Ausstellungen, Malaktionen oder Performances – niemals völlig außerhalb der offiziellen Strukturen. Sie suchten die Freiräume im Gerangel der Kompetenzen zwischen den beteiligten Stellen – SED, Verband bildender Künstler, Kulturhaus-Leitung und kommunale Verwaltung.

So konnte ein regelrechtes Husarenstück gelingen – die unabhängige Ausstellung einer Gruppe von Künstlern zur Leipziger Messe, der legendäre Herbstsalon von 1984. Erste Versuche, eine solche Ausstellung zu organisieren, gab es schon 1976, sie wurden jedoch durch gezieltes Vorgehen der „Organe“ erstickt. Dieselben Künstler sprachen acht Jahre später beim Chef der Leipziger Messe vor, mieteten als Mitglieder des Künstlerverbandes eine Halle und begannen mit dem Aufbau ihrer Werke. Die übergangenen Funktionäre versuchten in letzter Minute die Ausstellungseröffnung zu verhindern. In Berlin wurde eine Krisensitzung im ZK der SED anberaumt, die einen Kompromiß zum Ergebnis hatte: Die Ausstellung darf stattfinden, jedoch als Werkausstellung, jeder Künstler dürfe maximal drei weitere Personen gleichzeitig mitbringen, außerdem sollte der Raum der westlichen Presse verschlossen bleiben. Natürlich waren diese Auflagen nicht durchzusetzen, so daß schon bald Interessierte aus der ganzen DDR anreisten, um sich die Werke anzusehen und mit den Künstlern zu sprechen. Die Kulturchefin im ZK der SED, Ursula Ragwitz, orakelte von einer „konterrevolutionären Entwicklung“ und ließ verlauten, man werde sich „nicht noch einmal das Gesetz des Handelns aus der Hand nehmen lassen“.

Inzwischen hatte sich in Leipzig eine andere Generation von Künstlern freigeschwommen, eine Generation, die illusionslos in das Zeitalter der Stagnation hineingewachsen war und sich nicht mehr an den eigenen sozialistischen Idealen abarbeiten mußte. Die Jungen hielten sich von den offiziösen Strukturen zumeist fern. Freilich gab es eine Experimentalklasse an der Kunsthochschule, die der Heisig-Schüler Hartwig Ebersbach anleitete. Sie wurde aber bald wieder aufgelöst, nachdem sich Mitarbeiter des Ministeriums bei einem Durchgang entsetzt vom Ergebnis des libertären Kunstverständnisses gezeigt hatten. Währenddessen florierte das Szeneleben in der Wohnungsgalerie von Judy Lybke, tobte sich eine Gruppe von Aktionskünstlern mit Niere, Herz und Hirn vom Rind aus, versteigerte die Initiative „Hoffnung Nikaragua“ in Eigenregie Graphiken zugunsten einer Schule in Nicaragua. Bei alledem war die Stasi stets im Bilde, wobei es ihr – anders als in Berlin – nie gelang, die Protagonisten der Szene zu Spitzeln zu machen.

Natürlich gab es zu jeder Zeit auch Überschneidungen zum Schriftstellermilieu. Mit Leipzig als Ort der Literatur sind Namen wie Erich Loest, Gerhard Zwerenz, Uwe Johnson, Adolf Endler und Ralph Giordano (der zum ersten Studentenjahrgang am Literaturinstitut gehörte) verbunden. Dort, am Literaturinstitut, wurde 1968 gleich ein ganzes Drittel der Literaturstudenten wegen politischer Renitenz exmatrikuliert, was dazu führte, daß sich in Leipzig zum erstenmal eine unabhängige Gruppierung von Autoren zusammenfand. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderen Siegmar Faust, Gert Neumann und Andreas Reimann. Faust war zu jener Zeit für die städtischen Bäder auf einem Motorboot angestellt und organisierte eine Lesung auf See. Star des Abends und die große Neuentdeckung war Wolfgang Hilbig. Der Heizer Hilbig entsprach eigentlich dem Wunschbild der SED vom schreibenden Arbeiter. Nur daß er, wie Faust erzählt, während der Messe Urlaub nahm und „sich tagelang an den westlichen Verlagsständen herumdrückte und Lyrikbände abschrieb“, wurde nicht so gerne gesehen.

In den 80er Jahren war man mit weniger originellen Aufftrittsmöglichkeiten zufrieden – es gab den Studentenklub Moritzbastei, die NATO (Kulturhaus „Nationale Front“), die Kirchen und Gemeinderäume, Privatwohnungen, Galerien – und es gab den Jugendklub in der Steinstraße als prominenten Auftrittsort. Hier führte Brigitte Schreier-Endler Regie und holte, sich selbst immer haarscharf am Rausschmiß vorbeimanövrierend, den ganzen Untergrund zu Lesungen ins Haus. Die 80er Jahre waren auch das Jahrzehnt der zahlreichen Kunst-Literatur-Zeitschriften und Mappeneditionen, die in Kleinstauflage vertrieben wurden, um so die Genehmigungspflicht zu unterlaufen. In Leipzig gab es fünf dieser Zeitschriften mit Originalgraphiken und etliche Künstlerbücher. Karim Saab, einst Mitherausgeber der Zeitschrift Anschlag, erinnert sich an die Probleme, die mit der Verfielfältigung des Blatts zusammenhingen: „Irgendwann stießen wir auf eine privat betriebene Lichtpauserei. Beim ersten Auftrag behauptete Wiebke Müller, die Texte seien für einen Literaturzirkel. Doch schon beim Abholen bedeutete man ihr, daß künftig eine Druckgenehmigung vonnöten sei, da nur Häkelmuster ohne weiteres vervielfältigt werden dürften.“ Schließlich übernahm ein hilfsbereiter Computerbesitzer die Vervielfältigung, der sich später als Oberstleutnant der Staatssicherheit entpuppte.

Die Interviews, Berichte und Archivmaterialien beschwören noch einmal die abgestandene Atmosphäre der späten DDR-Jahre, den inneren Verfall der Gesellschaft, den Zynismus der Funktionäre und die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem äußeren Verfall der Städte. Kehrseite dieser Zeitstimmung war die „kreative Langeweile“, die „Subkultur“ – eine Kultur, die alles zu bieten hatte: unterhaltsamen Schwachsinn, Entäußerungen von Halb- und Vierteltalenten, politische Provokationen und Kunstbemühungen.

„Die Einübung der Außenspur. Die andere Kultur in Leipzig 1971–1990“. Thom Verlag, Leipzig 1996, 210 Seiten, 200 Fotos, 49,80 DM