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Die Frau, die Jane Roe war

Wie aus der Galionsfigur der Abtreibungsbefürworter in den USA eine Lebensschützerin wurde  ■ Von Mariam Niroumand

Auf den Bildern, die CNN dieser Tage von den aufgeregten Lebensschützern zeigte, die vor dem Parteitagsgebäude der Republikaner in San Diego auf und ab paradierten, konnte man sie kurz sehen: Norma McCorvey, eine der glühendsten Kämpferinnen für ein striktes Abtreibungsverbot, war in einem früheren Leben einmal Jane Roe, die Galionsfigur der Abtreibungsbefürworterinnen.

Als „Roe versus Wade“ ist 1973 ihr Prozeß berühmt geworden, der eines der liberalsten Abtreibungsrechte der Welt, das der Vereinigten Staaten von Amerika, begründete. McCorveys Geschichte, die sich streckenweise anhört wie eine schwarzbittere Südstaatenballade, läßt einen zweifeln, ob die Gräben zwischen den beiden Lagern, zwischen „Pro Choice“ und „Pro Life“, den Befürwortern und den Gegnern der Abtreibung, wirklich so tief sein müssen, wie man immer gern annimmt.

McCorvey war 1989 Debbie Nathan, einer Reporterin des New Yorker Stadtmagazins Village Voice, aufgefallen. Da trat sie noch als „Roe“ auf und führte in Washington eine Demonstration gegen den Obersten Gerichtshof an, der sich unter Präsident Bush anschickte, „mein Gesetz“, wie sie es nannte, auszuhöhlen (siehe Kasten). Nathan bemerkte, daß McCorvey zwar mit Begriffen wie „hochgradige Gefährdung“ oder „fiktional“ um sich warf, aber gleichzeitig beißende Grammatikfehler beging und nicht imstande war, in die Feinheiten des Abtreibungsrechts oder der feministischen Tagespolitik einzusteigen. Zwischen den Lehrerinnen, Ärztinnen und Anwältinnen an ihrer Seite wirkte sie wohl immer etwas fremd. Als der Fernsehsender NBC ihr Leben verfilmen wollte – mit Holly Hunter in der Hauptrolle –, fand man sie in einem Reihenhaus am Rand von Dallas, wo sie seit 25 Jahren mit ihrer Freundin Connie Gonzales zwischen Sperrmüllmöbeln lebt. Eine Zeitlang hat sie aus dem Badezimmerfenster heraus Drogen verkauft.

McCorvey war 22, als sie dort 1969 mit zwei smart gekleideten Anwältinnen zusammentraf, die per Annonce eine Frau suchten, die schwanger war und abtreiben wollte. Es war McCorveys dritte Schwangerschaft. Sie war die Tochter eines Zeugen Jehovas und einer zum Prügeln neigenden Mutter, die sie zu einer Sonderschule schickte, auf der sie Dunkelarrest dafür bekam, ein Mädchen geküßt zu haben. Sie hatte als Teenager einen Schläger geheiratet, den sie verließ, um mit Freundinnen zusammenzusein. Ihre Mutter nahm ihr deshalb das Kind aus dieser Ehe weg und drohte sie bei den Behörden wegen ihres Lesbianismus anzuzeigen. Das zweite Kind bekam sie von einem Mann, den sie kaum kannte, ebenso das dritte.

Die beiden Anwältinnen, Feministinnen, frisch von der Universität, suchten eine Frau, die als Klägerin im Prozeß „Roe versus Wade“ auftreten würde, eine Klägerin, die das Kind bekommen müßte, obwohl sie es nicht wollte, um das texanische Abtreibungsverbot in seinen drastischsten Konsequenzen darstellen zu können. McCorvey hatte – im Gegensatz zu den Mittelschichtsfrauen aus Texas – keine Ahnung, daß sie nur 400 Dollar hätte aufbringen und über die Grenze nach Mexiko fahren müssen, um ihre Abtreibung zu bekommen. Freunde hatten ihr gesagt, sie solle Motoröl trinken und Erdnüsse essen, bis sie schließlich, grün vor Übelkeit, in dem verlassenen Büro eines Kurpfuschers landete, der gerade verhaftet worden war.

Dem Fernsehen gegenüber hat McCorvey erzählt, daß die eine der beiden Anwältinnen, Sarah Weddington, den Weg über die Grenze nach Mexiko sogar selbst schon einmal ausprobiert hatte, ohne ihrer Klientin jedoch ihr Wissen über diese Möglichkeit mitzuteilen. Ebenso hatte die Anwältin ihr verschwiegen, daß der Prozeß aller Voraussicht nach sehr viel länger dauern würde als die Schwangerschaft.

Weddington hatte ihr zudem geraten, zu behaupten, die Schwangerschaft sei durch eine Vergewaltigung zustande gekommen. „Monate später“, schreibt McCorvey in ihrem Buch „I was Jane Roe“, „erzählte Weddington mir beiläufig, daß der Prozeß noch Jahre dauern würde.“

Sie gebar ein Mädchen, gab es zur Adoption frei und spielte wochenlang mit dem Gedanken, sich umzubringen. Währenddessen hatte sie kaum Kontakt mit den Anwältinnen. Von ihrem „Sieg“, dem bahnbrechenden Urteil des Obersten Gerichtshofs 1973, erfuhr sie zufällig aus den Abendnachrichten. Während der gesamten siebziger Jahre, so schreibt sie in ihrer Autobiographie, habe sie Angst gehabt, die Sache mit der Vergewaltigung könnte auffliegen – erst viel später erfuhr sie, daß die Behauptung überhaupt keine Rolle bei Weddingtons Plädoyer gespielt hatte.

In den achtziger Jahren stöberten Aktivistinnen McCorvey auf; sie gab einige Interviews, die allerdings von ihren Mitstreiterinnen ständig redigiert wurden: „Norma redete immer nur davon, daß sie einfach eine weiße Frau sei, die versuche, einigermaßen zurechtzukommen“, erzählte die Herausgeberin einer feministischen Zeitschrift, die ihre Klientel als texanische Mittelklasse beschreibt. „Sie war so anders, sie hätte ebensogut aus Äthiopien stammen können.“

Ihre Angst, als „white trash“ verlacht zu werden, war offenbar nicht unbegründet, nahm aber mitunter, wie Debbie Nathan schrieb, auch groteske Formen an. Als sie zum Marsch auf Washington mit hochhackigen Schuhen antrat und die anderen ihr rieten, lieber in Tennisschuhen zu gehen, war sie tödlich getroffen und ging schließlich allein.

McCorvey begann für Abtreibungskliniken zu arbeiten. Einer Vorgesetzten berichtete sie über das panische Gefühl, an leeren Kindergärten vorbeizugehen und zu denken: „Ich habe alle diese Babys umgebracht.“ Die Frau, Charlotte Taft, Leiterin einer Abtreibungsklinik in Dallas, riet ihr zu Alkoholentzug und psychologischer Beratung. Heute erzählt McCorvey, daß sie noch Jahre nach der Adoption Bushaltestellen und Schulhöfe nach einem Kind absuchte, das ihres hätte sein können.

Daß diese Art von Gefühl in der frühen Pro-Choice-Bewegung der siebziger Jahre nicht unterzubringen war, versteht man leicht. Wer kann schon polemisieren, wenn er „einerseits-andererseits“ sagt. „In den hitzigen Tagen nach ,Roe versus Wade‘“, so schreibt Nathan, „hatten amerikanische Frauen das Gefühl, sie kämpften einen Unabhängigkeitskampf gegen die Biologie und sie eröffneten neue Wege in die berufliche und häusliche Gleichstellung. Bei solcher Hybris wundert es nicht, wenn viele Aktivistinnen und klinische Berater kein Problem damit hatten, Föten lediglich als lebloses Klümpchen oder Produkte der Empfängnis zu betrachten.“

Der amerikanische Jurist und Rechtsphilosoph Ronald Dworkin ist der Auffassung, die beiden tödlich verfeindeten Lager in der Abtreibungsdebatte könnten sich nur aufeinander zubewegen, wenn die Ambivalenz zwischen Verlustgefühlen und Unabhängigkeitsstreben akzeptiert würde. Statt aber den Streit immer wieder über die irrige Frage zu führen, ob der Fötus eine Person mit entsprechenden Rechten und Interessen sei, sollten beide Seiten anerkennen, was sie eint: eine Wertschätzung – Dworkin nennt es Heiligkeit – des Lebens. „Wir haben uns einreden lassen oder selbst eingeredet, daß die Kernfrage eine metaphysische ist – ob der Fötus eine Person ist oder nicht – und daß eine rationale Klärung ebenso unmöglich ist wie die Suche nach Kompromissen, da es für die eine Seite darum geht, ob man Babys ermorden darf, und für die andere darum, ob Frauen zum Opfer religiösen Aberglaubens werden sollen. In Wahrheit ist die Auseinandersetzung eine ganz andere: Unsere Ansichten gehen deshalb so kraß auseinander, weil wir alle für einen Wert eintreten, der uns als Menschen vereint – die Heiligkeit oder Unverletzlichkeit menschlichen Lebens in allen seinen Stadien.“

Dworkin vermutet, daß die Unterschiede dadurch zustande kommen, daß auf dem Kontinuum des uns allen Heiligen, das von den Polen der sich selbst erschaffenden Natur bis zu der vom Menschen erschaffenen Kunst reicht, die Pro- Life-Anhänger eher zur Natur, die Pro-Choice-Verfechter eher zur Kunst tendieren: die einen eher zur Wertschätzung der natürlichen oder göttlichen Schöpfung an sich, also des Fötus, die anderen eher zur Wertschätzung dessen, was der einzelne und die Gesellschaft aus einem Leben machen, also dem erfüllten Leben der Frau, das durch eine ungewollte Schwangerschaft zerstört werde.

Norma McCorvey hat es auf die andere Seite des Abtreibungskriegs verschlagen, als sie wieder in einer Klinik arbeitete. In den späten achtziger Jahren hatten sich die Lebensschützer, die auf den Parkplätzen vor den Abtreibungskliniken demonstrierten, auf eine feministische Rhetorik verlegt und Patientinnen und Mitarbeiterinnen klarzumachen versucht, sie seien „Opfer eines Mißbrauchs“ durch Ärzte. McCorvey wurde schwach und erzählte einem der Prediger von ihrem Alptraum über die leeren Spielplätze und die von ihr ermordeten Babys. Man nahm sie freundlich auf. Die Leute waren gekleidet wie sie und redeten im selben Südstaaten-Drawl. McCorvey und ihre Freundin Gonzales schworen letztes Jahr öffentlich ihrem Lesbentum ab und bekamen Jobs im Pressezentrum der Lebensschützerorganisation „Operation Rescue“.

Vor kurzem wurde Norma McCorvey in einem Swimmingpool in Dallas von Reverend Flip Benham getauft.

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