Wenn ein Nazikind vom Vater erzählt

■ SchülerInnen diskutierten mit Martin Bormann, dessen Vater Hitlers Sekretär war

Berlin (taz) – Wenn der pensionierte Religionslehrer über seinen Vater spricht, klingen seine Worte sehr überlegt, beinahe hölzern. Leidenschaftslos. Er sagt nicht „mein Vater“, sondern schlicht „der Vater“. „Der Vater“ hieß Martin Bormann und war einer der wichtigsten Männer im Dritten Reich. Nach einer steilen Karriere wurde Bormann 1943 der persönliche Sekretär Adolf Hitlers, er galt als die Graue Eminenz im Hintergrund des Führers.

Sein Sohn heißt ebenfalls Martin und ist 66 Jahre alt. Ein engagierter Geschichts- und Politiklehrer hatte ihn gestern in eine Berliner Schule eingeladen, um mit den 16- bis 18jährigen SchülerInnen über die Biographie des mächtigen Vaters und seine Erfahrungen als Kind eines Täters zu sprechen.

Die SchülerInnen sind auf diesen Bormann gut vorbereitet: Die meisten von ihnen haben vorher im Unterricht Referate über den Nationalsozialismus gehalten, Biographien über die wichtigsten Personen des Dritten Reichs wurden gemeinsam gelesen. Doch Martin Bormann, der erst nur über seine Jugend auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden erzählt, läßt die Akteure des Dritten Reichs plastisch werden.

Seinerzeit wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft der Bormanns die Familien Göring und Speer, gleich neben der Residenz von Adolf Hitler. Nach 1933 hatte die NS-Führungselite begonnen, den Obersalzberg als „Berg des Führers“ zu gestalten, quasi als privater Ort der Entspannung.

Über den Führer wollen die Schüler und Schülerinnen alles wissen. „Können Sie sich noch an Hitler erinnern?“ „Hat sich Hitler auch manchmal ganz menschlich benommen?“ Martin Bormann erzählt spröde, wie Hitler – sein Taufpate – ihm am Geburtstag die Wange getäschelt hat. Auf die Frage, warum die Deutschen von Hitler so fasziniert gewesen seien, antwortet er fast barsch: „Ich weiß es nicht.“

Obwohl Bormanns Vater, in einer Biographie als „negative Ergänzung“ zu Hitler beschrieben, äußerst „streng“ gewesen sei, habe der Sohn ihn „geliebt“. Große Schwierigkeiten hatte er allerdings mit der „quasireligiösen“ Beziehung des Vaters zum Führer, die er als „anbetendes, distanziertes, devotes Verhältnis“ beschreibt.

Vielleicht hat Martin Bormann deshalb nach dem Krieg als katholischer Geistlicher unter anderem in Afrika und als Lehrer im westfälischen Hagen gearbeitet. Das Thema Nationalsozialismus habe er in seinem eigenen Unterricht zwar behandelt, sich selbst als Zeitzeugen jedoch nicht miteinbezogen, sagt er. Seine absurde Begründung: „Es schien mir nicht nötig.“

Geöffnet und ausführlicher über seine Vergangenheit gesprochen hat Martin Bormann dann erst 1993 in einem „Opferkinder – Täterkinder“-Projekt des israelischen Psychologen Dan Bar-On. Die BBC drehte eine Dokumentation über das Zusammentreffen der „Kinder des Dritten Reichs“ in Israel. Den Film, der in Deutschland öffentlich nicht gezeigt werden darf, weil einige deutsche TeilnehmerInnen dies nicht wollten, konnten die SchülerInnen der Theresienschule am Schluß des Projekttages sehen.

Den meisten SchülerInnen gefällt diese Form des Geschichtsunterrichts. Sie fühlen sich von den „Gefühlen“ überwältigt. Die 18jährige Antje sagt: „Daß auch Kinder von Tätern ein kaputtes Leben haben können, hätte ich nicht gedacht.“ Ein anderer Schüler findet es viel „lehrreicher, mal mit einem Sohn eines Ultranazis zu reden, als immer nur Fakten zu pauken“. Aber die, sagt Antje, müßten trotzdem gelernt werden: „für die nächste Klausur.“ Julia Naumann