„Berlin hat ein riesiges Potential“

■ Im Interview kritisiert Siemens-Vorstand Wolfram O. Martinsen die Sparpolitik des Senats: „Es fehlt die Aufbruchstimmung.“ Kürzungen bei den Universitäten seien schädlich. Die Stadt könne „Weltkompetenz-Zentrum“ der Verkehrsindustrie werden

taz: Der Senat bemüht sich, Investoren nach Berlin zu holen. Welche Fehler macht er dabei?

Wolfram Martinsen: Man verwaltet nur, gestaltet aber zuwenig. Um es mit einer Analogie aus unserem Betrieb zu beschreiben: Siemens muß die Poduktivität erhöhen und Kosten senken. Gleichzeitig investieren wir jedoch, um regional und weltweit stärker zu werden. Beides zu verbinden ist die Kunst des Unternehmertums. Das erwarte ich auch von der Berliner Politik. Mir als Nichtberliner – ich ziehe erst im Oktober von Erlangen an die Spree – fällt auf: Man hört nur, daß gespart wird. Das schafft kein Klima, bei dem sich Unternehmer denken: Da gehe ich hin, da kriege ich, was ich brauche. Es mangelt der Stadt an einer Aufbruchstimmung.

Der Senat sollte mehr herausstellen, daß er Anreize für Ansiedlungen schafft und neue Ideen entwickelt. Investitionen in Berlin können sich doch lohnen! Aber es gibt auch positive Beispiele: Wir haben einen runden Tisch mit Politikern und Managern aus dem Verkehrssektor ins Leben gerufen. Da kann man sich zwanglos unterhalten. Erstes Ergebnis: Die Schienenverkehrsmesse „Innotrans“ wird jetzt alle zwei Jahre hier stattfinden. Das nenne ich Vorwärtsstrategie.

Bei den Universitäten sucht der Senat sein Heil im rigiden Sparen.

Diese Politik verstehe ich nicht. Wir brauchen ein investitionsfreundliches Klima. Dazu gehört es, die entsprechenden Grundlagen in Wissenschaft und Forschung zur Verfügung zu stellen. Da darf man nicht die Hochschulen zusammenstreichen und die Zahl der Studierenden verringern. Das paßt nicht zusammen.

Warum ist der Bereich Verkehrstechnik der Siemens AG trotzdem nach Berlin gekommen?

Wir gehen zu unseren Kunden. Gerade bei der Schienenverkehrstechnik ist Berlin einer der größten regionalen Einzelmärkte auf der Welt. Die mustergültige Infrastruktur mit ihrer Kombination aus Fernzügen, U- und S-Bahn wird wiederhergestellt.

Außerdem spielt die Stadt eine besondere Rolle bei der Anbindung der osteuropäischen Partnerländer an das zentrale Europa. Die BVG ist im U-Bahn- und Straßenbahnbereich außerordentlich innovativ. Wir sind im übrigen nicht allein: Die Deutsche Bahn AG hat einen ihrer Hauptsitze in diese Stadt verlagert. Auch die neugebildete ADtranz, die Verkehrstochter von Daimler-Benz und ABB, residiert in Berlin.

Bisher stellen Sie im Stadtbezirk Treptow vor allem Signal- und Sicherheitstechnik her. Planen Sie die Ansiedlung zusätzlicher Bereiche?

Ein weiteres Geschäftsfeld wird von Erlangen nach Berlin kommen. Das sind die Leute, die sich um den Verkauf kompletter, schlüsselfertiger Stadtbahnsysteme kümmern. Der Gebietsleiter ist schon hier, die Mannschaft kommt in den nächsten zwei Jahren nach. Das bedeutet einen Zuwachs von 170 Arbeitskräften.

Sie reden mit Engelszungen, um Ihr Führungspersonal in die Stadt zu holen. Sträuben sich die Manager, weil es in Berlin eine radikale Szene, Rollheimerplätze und HausbesetzerInnen gibt?

Nein, daran liegt es nicht. Sicherlich kann man das Thema kontrovers diskutieren. Aber eine Stadt zeigt Vitalität, wenn sie verschiedene Strömungen toleriert und mit ihnen lebt. In Hausbesetzungen sehe ich keine Beeinträchtigung des Standortes Berlin.

Bisher war Siemens einer der größten Jobkiller der Stadt. Bis September sollen weitere 1.200 Arbeitsplätze verschwinden. Schaffen Sie mehr neue Stellen, als Sie vernichten?

Wir waren nicht der größte Jobkiller. Siemens hat weniger Arbeitsplätze abgebaut als in der Branche üblich. Von einstmals 2.400 Leuten in Treptow haben wir zwar nur die Signaltechnik mit 800 Arbeitsplätzen erhalten. Nach der Umstrukturierung bauen wir jetzt aber wieder auf. Bald werden hier knapp 1.500 Leute arbeiten. Mit den Betriebsräten haben wir vereinbart, an den anderen Berliner Siemens-Standorten 500 neue Jobs zu schaffen. Das klappt aber nur, wenn wir neue Märkte mit neuen Produkten erschließen können. Es hat keinen Sinn, die alten, unwirtschaftlichen Aktivitäten künstlich aufrechtzuerhalten.

Sie sagen, Berlin könne sich zum „Weltkompetenz-Zentrum“ der Schienenverkehrstechnik entwickeln. Außer dem U-Bahn- und Stadtbahn-Bau gibt es hier aber nicht viel, was im Weltmaßstab konkurrenzfähig wäre.

Die Stadt verfügt über ein riesiges Potential. Mit Siemens und ADtranz sitzen hier zwei der drei weltweit größten Systemanbieter im Schienenverkehr. In Frankreich gibt es noch den Konzern GEC Alsthom. Wir werden in Berlin eine Kombination aus industriellen Anbietern entwickeln, die die Bahntechnik herstellen, und Betreibern, die die Verkehrssysteme einsetzen. Hochschulen und Institute werden an neuen Ideen arbeiten.

An der Produktion des Schnellzugs ICE oder der Magnetschwebebahn Transrapid sind die hiesigen Firmen nur zu einem sehr kleinen Teil beteiligt.

Das kann sich ändern. Die Systemanbieter ziehen ja andere Firmen nach. Mittelständische Unternehmen werden sich als Zulieferer für Teilsysteme in unserem Umkreis ansiedeln. Bei der nächsten Generation von Hochgeschwindigkeitszügen bauen wir zum Beispiel elektronische LCD-Anzeigen für die Platzreservierung ein. Die produziert ein mittelständischer Betrieb mit dreißig Leuten, der sich vor einiger Zeit auf dem Siemens-Gelände in Spandau niedergelassen hat.

Sie wollen nicht Monopolist sein – Konkurrenz ist Ihnen willkommen?

Das sind keine Konkurrenten für uns. Die Systemhäuser können schließlich nicht alles selbst machen. Wenn wir zum Weltkompetenz-Zentrum aufsteigen wollen, brauchen wir die mittelständische Industrie.

Trotzdem bringt der Transrapid kaum Jobs in die Stadt.

Natürlich tut er das. Wir haben die Transrapid-Planungsgesellschaft an die Spree geholt, und die Betreibergesellschaft bietet hier in Zukunft rund hundert Arbeitsplätze. Richtig ist: Die Fahrzeuge werden woanders gebaut. Aber vielleicht stellt Siemens später Teile des Leit- und Sicherungssystems in Berlin her.

Das klingt optimistisch. Dagegen haben Sie die Magnetbahn vor einiger Zeit noch als „Harakiri“ bezeichnet.

Die Zweifel haben bei mir durchgeschaut, als es in der Anfangsphase darum ging, die richtige Strecke zu finden. Da war fraglich, ob die Schwebebahn genug Geld einfahren kann. Auf der jetzt festgelegten Trasse zwischen Hamburg und Berlin scheint die Wirtschaftlichkeit aber gegeben zu sein. Die Kosten werden sich amortisieren. Der Transrapid ist die Alternative schlechthin, um Mittelstreckenflüge zu ersetzen. Das Ding schafft immerhin 500 Kilometer pro Stunde.

Der französische Schnellzug TGV ist schneller.

Ein einmaliger Rekord während einer Testfahrt. Bei diesen hohen Geschwindigkeiten ist aber die Stromübertragung ein großes Problem. Der Fahrdraht beginnt zu schwingen, und der Stromabnehmer des Zuges fetzt ihn herunter. Diese Gefahr ist bei der Magnetbahn ausgeschlossen. Deswegen erreicht sie höhere Geschwindigkeiten im Normalbetrieb.

Sie sind begeisterter Anhänger des öffentlichen Nahverkehrs. Wollen Sie Berlin autofrei machen?

Ich bin kein dogmatischer Gegner des Autoverkehrs. Mit Repression erreicht man nichts, man muß statt dessen ein verlockendes Angebot schaffen. Meine Vision sieht so aus: Die Züge und Bahnhöfe werden attraktiv gestaltet. Während der Bahnfahrt steht den Reisenden ein Kommunikationssystem zur Verfügung, das ihnen das Gefühl gibt, individuell zu reisen. Sie können Verbindungen mit Zügen und anderen Verkehrsmitteln im Computer abrufen und deshalb ihre Route spontan und bequem ändern.

An der Peripherie Berlins gibt es dann Park-and-Ride-Einrichtungen mit vollautomatischen Parkhäusern, wo das eigene Auto im Hochregallager wartet. Zwei Bahnhöfe vor Ihrer Ankunft drücken Sie eine Taste auf dem Handy, und die Roboter holen schon mal Ihren Wagen aus der Garage. Kommen Sie an, können Sie sofort weiterfahren.

Der Senat beschränkt sich darauf, den Autoverkehr innerhalb des S-Bahn-Rings zu reduzieren.

Meine Vision gilt für die gesamte Stadt. Wer trotzdem mit dem Auto in die Stadt hineinfahren will, soll Gebühren zahlen.

Welche Chancen hat Berlin als Dienstleistungsmetropole und Industriestandort?

Mit der Dienstleistungsmetropole habe ich so meine Probleme. Der Begriff ist zu nebulös. Man weiß nicht genau, was man darunter verstehen soll. Für manche Leute ist selbst McDonald's noch ein innovatives Dienstleistungsunternehmen. Auf jeden Fall sollte sich Berlin von dem Traum verabschieden, wieder ein großer Industriestandort zu werden. Neue Industrien lassen sich kaum anlocken. Dafür hat die Stadt nichts Außergewöhnliches zu bieten. Berlins eigentliche Chance liegt im Bereich der Infrastruktur. Verkehrsindustrie, Kommunikation und Energieverteilung sind die richtigen Stichworte.

Interview:

Gerd Nowakowski

Hannes Koch