Ein Stillen-leben

■ Gerhard Richter und seine Modelle: Ein Familienalbum in "100 Bildern" in Nimes

Listig war das eingefädelt. Während die bärbeißigen, kahlen, lederbejackten deutschen Malerfürsten in heimischen Retrospektiven gefeiert wurden, ließ Gerhard Richter die Schätze aus seinem Kölner Atelier nach Nimes verfrachten. Wer es bis dorthin brachte – ein quirliges Städtchen, dem die Abwesenheit eines Mittelmeerhafens zu einer gewissen Normalität verhilft –, durfte Anteil haben an den Geheimnissen des Malers. Das deutsche Fernsehen flog ihm nach, der Spiegel stellte Farbseiten bereit: die „100 Bilder“ in Norman Fosters luftigem weißen Kasten, dem Carré d'art, wurden zum Wallfahrtsziel der Ferienkarawane.

Einblicke ins private Leben

Richter hat einen Hang zum klandestinen Skandal, zur stillen Geste, die so präzise kalkuliert ist, daß sie sich im medialen Blow-up gerade bis zur Kenntlichkeit verzerrt. Seine Bilder aber funktionieren genau umgekehrt: Sie sind aus der Welt des tausendfach Bekannten gefiltert und in eine lebendige Form gebracht, die man nicht reproduzieren kann.

Mit den „100 Bildern“, hieß es, erlaube Richter ein paar Einblicke in sein privates Leben. Vor allem als prekär gilt die Serie über „S. mit Kind“, seine junge (und dritte) Frau Sabine mit dem gemeinsamen Sohn Moritz auf dem Arm. Die Bilder sind vom letzten Jahr.

Die Ausstellung gibt einige wenige selektive Verweise auf vorausgegangene Werkphasen. Mit „Zwei Grau“ arbeitete sich der Maler 1966 an der Frage ab, inwiefern die Systematik der Motivwahl dargestellt werden muß. Mit dem „Grau“ von 1976 war er bei der Negation der Motivwahl angekommen. Die Depression, die dem vorausging oder folgen mußte, ist unübersehbar. Mit dem „Spiegel“- Bild von 1987 – tatsächlich nur ein gerahmter Spiegel – hatte Richter zu erkennen gegeben, daß „nichts zu malen“ genauso möglich ist wie „alles zu malen“. Alle drei Bilder sind, aus irgendeinem Grund, zwei Meter breit oder hoch.

Mehr als neunzig der anderen hundert Bilder jedoch sind so kleine Formate, daß man sie locker unter dem Arm tragen könnte wie eine Aktentasche. Offensichtlich sind es Versuche in der kleinen Form; und das Museum behauptet, die Werke kämen aus dem Atelier und seien vormals nicht gezeigt worden. Gezielt werden Bilder, die in unterschiedlichen Techniken gemacht worden sind, miteinander gemischt. Das rapsgelbe, geschabte „Abstrakte Bild“ (Nr. 817-2) hängt neben den ebenfalls leuchtend gelben „Tulpen“ (Nr. 825-2), die ohne jeden Zweifel nach einer fotografischen Vorlage gemalt sind. Die Schabe-, Pinselstrich- und Tupftechniken werden so augenfällig verschränkt, daß die Lust des Malers, seine Brillanz in der „kleinen Arbeit“ zu verwischen, kaum zu übersehen ist. Anders gesagt, der private Charakter der Formatwahl ist evident. Die hundert Bilder sind nicht „The Best of...“, sondern nah am Gegenteil, ein in keiner Weise geschöntes Protokoll.

Im Foster-Bau ist die oberste Galerie, in der die „100 Bilder“ gezeigt werden, symmetrisch angelegt mit der Besonderheit, daß man auf der Hälfte des Rundgangs die klimatisierten Räume verläßt und ins Treppenhaus zurückschaut. Der Rückweg durch Saal vier bis sechs ist somit die Spiegelung des Hinwegs. Die Dramaturgie ist offensichtlich genutzt, indem der mittlere Saal des Hinweg-Trakts Isa Genzken gewidmet ist und der mittlere Saal des Rückweg-Trakts „S. mit Kind“ – Annäherung an das Stillen-leben.

Isa Genzken ist eine Künstlerin, Jahrgang 1948, die sich bereits in den siebziger Jahren etablierte und 1982 mit Gerhard Richter eine Ehe einging, seine zweite. Sie erscheint in drei Portraits, die 1990 offenbar nach fotografischen Vorlagen gemacht wurden. Richter, als Interpret in Verlegenheit, versucht sich in Manipulationen ohne Evidenz. Die Bilder heißen schlicht „Isa“. In zwei anderen Bildern, die „I. G.“ betitelt sind, erscheint sie als fahler Rückenakt mit hartem Schlagschatten (1993). Auf einem ist sie in einer tänzerischen oder gymnastischen Bewegung gestoppt.

„S. mit Kind“ ist dagegen in eine Serie von Ansichten eingegossen, die acht Varianten der Richter- Technik, ein Motiv als fotografisch zu entlarven, geradezu pedantisch exemplifiziert. Die Billigkeit, das milchige Glück knipsen zu können, wird bösartig gegeißelt. Die durchtriebenste Variante präsentiert die nackte Einheit von Mutter und Sohn wie ein fotografisches Detail aus einem drittklassigen Präraffaelitenopus. Ein anderes Bild fixiert den Babykopf frontal und wirkt wie ein auf dem Videorekorder gestopptes Bild aus einem Werbespot für Milupa oder Nivea. Im letzten Saal der Ausstellung zeigt Richter zwischen wiederum abstrakten Motiven ein Selbstportrait, auf dem er so magisch und überzeugend aussieht wie ein postsozialistischer Rentner in der Küche seines Plattenbaus, unscharf festgehalten mit der neuen Pocketkamera.

Die Tochter als Schlüsselfigur

Damit ist die Familie aber noch nicht vollständig. Im Sabine-Trakt sind zwei Bilder der „Lesenden“ Betty zu sehen, einer goldblonden Frau mit kindlichem Halbprofil in konservativer Aufmachung. Seit einem raffinierten Gemälde (Nr. 663/5, 1988), das ihren Namen trägt, ist sie, die Tochter, eine Schlüsselfigur seines Werks. Aber auch das jüngste Bild (Nr. 804) atmet eine häusliche Stille, die sich tief ins Gedächtnis eingräbt.

Richter arbeitet bekanntlich nach Fotografien und hat damit – a priori – eine Schwäche der Malerei eingeräumt: daß ihr die Legitimität, Motive zu wählen, zumindest partiell abhanden gekommen ist. Mit Fotografien als Quelle, allerdings, hat Richter sich einen nahezu universellen Kodex zugelegt. Alles, was man fotografieren kann, kann er malen: Städte, Landschaften, Seen, Köpfe, Leiber. Es können Erinnerungsbilder sein, Studien, Bilder aus Büchern und Zeitungen; die Fotografen können anonym, austauschbar oder bekannt sein. Vor allem hat sich Richter ein dilettantisches Verhältnis zum Fotografieren bewahrt, so daß seine Fotos sich interpretieren lassen wie „private“ Quellen. Man kann die Ausstellung lesen wie ein Familienalbum; oder ärger, man muß. Richter wendet sich zurück auf sein Werk und zeigt anhand einer kleinformatigen Strecke aus wenigen Jahren, wie er den Motiven verfällt im Sinne der Objektwahl Freuds: nach libidinösen Mustern, die eingespannt sind in die Dichotomien von Mutter und Nachfolgemutter, Narziß und Abbild des Narziß.

Baselitz hat einmal ein extravagantes Bild gemalt, von einem Gnom auf einem Feld mit einem großen Oymel, das hieß: „Die große Nacht im Eimer“. In den nächsten dreißig Jahren wurde die Blöße zugedeckt mit einem Gestrüpp von Symbolen. Unter dem Adler tut man's nicht mehr.

Richter hat sein Werk nicht auf der Folie des Genies entfaltet. Sein Modus heißt Arbeit. Sein Fundus sind die sehnsüchtigen, flüchtigen, harten Bilder, an denen jeder trägt. Sein Erkenntnisinteresse ist geknüpft an das Leitsystem des Alltags. Das unterscheidet ihn von Immendorff, Lüpertz und Kiefer. In Nimes antwortet G. H. auf die Forderung: „Zeige deine Wunde!“

Natürlich weiß Richter, daß er mit seiner Malerei auf der Seite des Erfolgs ist, aber mit dieser Malerei zu leben – so die Gesamtschau – ist etwas für ganz gewöhnliche Helden. Die Objektwahl ist immer ein Triumph und jedes Element von Täuschung, das sich daraus ergibt, ein ungeheurer Verdruß.

Der erste Teil der Ausstellung ist durchsetzt mit Vanitasmotiven, im zweiten Teil gewinnen die Reisemotive an Gewicht. Privat- oder Geschäftsreise, wird vom Finanzamt gefragt, das die Antwort „beides“ immer gegen den Gefragten auslegt. Aber was wissen die schon vom Werk! Und was vom Leben?

In Nimes erzählt der Maler die Geschichte vom Maler und seinem Modell. Isa hatte eigentlich keines sein sollen; deshalb entkommt sie, fragil und männlich, als fragmentarische Gestalt. Sabine verkörpert den klassischen Konflikt frontal: Künstlerin oder Modell? Ikone des privaten Lebens oder Ikone des Werks? Der Zyklus – übrigens von der Hamburger Kunsthalle gekauft – stellt die Flucht nach vorn dar: alles oder nichts.

Wie kein anderer Maler ist Richter fest verwurzelt in der Gegenwart. Im Querschnitt – und im selben Raum – erscheint die junge Ehefrau mehr oder weniger nackt als „Kl. Badende“, die um ein paar Jahre ältere Tochter aus erster Ehe als „Lesende“. Ob die Motivwahl koscher ist, wird an der Objektwahl sichtbar gemacht. Wer nicht die Geduld hat zu vergleichen, muß die beiden verwechseln. Ein Fehler des Malers ist das nicht. Ulf Erdmann Ziegler

Gerhard Richter: „100 Bilder“, Nimes, bis 22. September. Katalog bei Cantz