Die Informationsflut kanalisieren

Wissenschaftliche Erkenntnisse werden zu einem teuer zu bezahlenden Rohstoff  ■ Von Wiebke Rögener

Der Turmbau zu Babel scheiterte bekanntlich an der Verständigung. Dem Gebäude der Wissenschaft droht es ähnlich zu ergehen: An jedem Arbeitstag erscheinen weltweit 20.000 mehr oder weniger inhaltsschwere wissenschaftliche und technische Veröffentlichungen. Längst kann kein Wissenschaftler mehr behaupten, auch nur in seinem eng begrenzten Spezialfach alle wissenschaftlichen Arbeiten zu kennen. Auf dem Gebiet der Technik geht es ähnlich unübersichtlich zu: Etwa zwei Drittel aller Patentanmeldungen werden abgewiesen, weil die vermeintliche Neuheit bereits irgendwo existiert und zum Patent angemeldet wurde. So wird vieles doppelt und dreifach erforscht und erfunden. Der Schaden für die deutsche Wirtschaft beläuft sich nach Angaben des deutschen Patentamts auf rund 24 Milliarden Mark.

Bessere Informationssysteme müssen her. Wer je im Internet surfte, weiß: Zwar ist (fast) jede Information irgendwo vorhanden, aber das heißt noch lange nicht, daß sie auch zu finden ist. Die Bundesregierung möchte das Chaos eindämmen. In der vergangenen Woche beschloß das Kabinett ein Programm unter dem Titel „Information als Rohstoff für Innovation“: Insgesamt 1,9 Milliarden Mark werden bis 1999 bereitgestellt für eine Politik, die, so Bundesforschungsminister Jürgen Rüttgers, „Deutschlands Position in der globalen Informationsgesellschaft sichern soll“. Die Informationsstruktur soll ausgebaut, Zugangsmöglichkeiten zu Datenbanken sollen verbessert werden. Studierende, die schon mal wochenlang vergeblich versuchten, ein dringend benötigtes Lehrbuch in der Unibibliothek zu entleihen, werden es mit Staunen vernehmen. Wurden doch überall die Mittel für die Bibliotheken gekürzt, Zeitschriften abbestellt, Öffnungszeiten verkürzt, um zu sparen?

Wofür nun das viele Geld? Rüttgers benennt vier Ziele: Es sollen neue Informationssysteme und Suchverfahren entwickelt werden, die deutschen Wissenschaftlern und Technikern von ihren Arbeitsplatzrechnern aus den effizienten Zugang zu den weltweit vorhandenen Informationen ermöglichen. Der Strukturwandel von der gedruckten zur elektronischen Publikation soll gefördert werden. Die elektronisch verfügbare Information soll verstärkt in der Industrie nutzbar gemacht werden – schneller Transfer von Forschungsergebnissen in die Anwendung heißt das Stichwort. Als letzter Punkt ist die Privatisierung der bisher noch staatlich finanzierten Informationsprodukte und -dienstleistungen aufgeführt, sie sollen künftig mit kostendeckenden Preisen arbeiten.

Angesichts dieser Ziele verteilt sich die beträchtliche Summe höchst eigentümlich auf die Ressorts: Den Löwenanteil, mehr als eine halbe Milliarde Mark, erhält das Innenministerium, unter anderem für den Ausbau der Datenbanken im Statistischen Bundesamt. Es folgt das Wirtschaftsministerium mit 327 Millionen Mark. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBF) erhält gerade mal ein knappes Siebtel der Aufwendungen des Bundes für die wissenschaftlich-technische Information.

Geht es also wirklich in erster Linie um bessere Arbeitsmöglichkeiten für Wissenschaftler und Techniker? Wohl eher nicht. Wissenschaft wird hier – ganz ohne alle Verbrämung – als Zulieferer gesehen, als Produzent des Rohstoffs Information eben. Veredelt wird dieser erst durch die wirtschaftliche Nutzung, zum Wohle des Standorts Deutschland natürlich. Das Strickmuster der Argumentation ist simpel: Informationen führen zu technischen Innovationen. Neue Produkte und Verfahren wiederum stärken die deutsche Wettbewerbsposition. Es fehlt nicht der obligatorische Hinweis auf die angebliche Sicherung von Arbeitsplätzen. Nicht um Erkenntnisgewinn geht es, sondern um „Innovationsstimulierung“. Die Wissenschaft hat bei diesem Prozeß sowenig zu melden wie andere Rohstofflieferanten auch.

Wissenschaftliche und technische Information werden zu einem „wirtschaftlichen Gut“. Zwar zahlen die nach Rüttgers Vorstellungen alsbald zu privatisierenden Datenbanken den Urhebern wissenschaftlicher Arbeiten keinerlei Honorar. Das mag sie aber kaum hindern, zukünftig erhebliche Nutzungsgebühren für die von ihnen aufbereiteten Daten zu verlangen. Ob dieses Verfahren wirklich die allgemeine Zugänglichkeit von Informationen erhöht, muß sich erst noch erweisen.

Das Problem, den Informationsüberfluß zu bewältigen, stellt sich tatsächlich. Es ist aber nicht nur – und vielleicht nicht einmal in erster Linie – ein technisches. Die „Publikationsflut kann nicht zwangsläufig mit einem entsprechenden Wachstum an neuen Ideen, Erkenntnissen oder Erfindungen gleichgesetzt werden“: Einsam und verloren steht dieser Satz in dem von Rüttgers vorgestellten Programm; Schlußfolgerungen werden aus dieser Erkenntnis nicht gezogen. Ein Wissenschaftsbetrieb, der international nach der Devise „publish or perish“ – veröffentlichen oder untergehen – funktioniert, kann nicht anders, als eine Flut unübersichtlicher und oft zusammenhangloser Daten und Fakten zu produzieren. Für die Karriere eines Forschers zählt bekanntlich die Anzahl der Publikationen. Seit einiger Zeit werden Fachzeitschriften mit sogenannten „impact factors“ versehen, die die wissenschaftliche Reputation widerspiegeln sollen. Berechnungsverfahren multiplizieren die Anzahl der Veröffentlichungen mit diesen Faktoren, berücksichtigen außerdem, wie häufig ein Aufsatz wiederum von Kollegen zitiert wird, und messen so „objektiv“ die Qualifikation eines Wissenschaftlers. Mancherorts werden schon Stellenbesetzungen nach diesem Verfahren vorgenommen. Schön dumm wäre, wer einige Jahre lang an einer Fragestellung arbeiten und die erlangten Kenntnisse dann in einem längeren Aufsatz veröffentlichen würde. Der Trend geht statt dessen zur „kleinsten publizierbaren Einheit“.

Die Ansammlung solcher Daten ist sowenig „Wissen“, wie ein Haufen Steine ein Gebäude wäre. Eine Wissenschaft, die nicht nur den „Rohstoff Information“ liefern will, muß ihre Erkenntnisse wieder in Zusammenhängen sehen und darstellen, die nicht nur engsten Insider-Kreisen verständlich sind. Auch hier gilt: Informationsmüllvermeidung geht vor -verwertung.