Das Portrait
: Gegen das Vergessen

■ Alfred Streim

Noch im April hat die Republik Polen ihn mit einem Verdienstorden ausgezeichnet. In wenigen Monaten sollte er pensioniert werden. Am vergangenen Samstag ist Alfred Streim völlig überraschend gestorben. Elf Jahre lang hat er bis zu seinem Tod die Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg geleitet.

Im Jahre 1963 wurde Streim von Hamburg nach Ludwigsburg versetzt. Das war nicht unbedingt sein eigener Entschluß – seine Karriere hatte er sich als Staatsanwalt anders vorgestellt. Doch er zog um, blieb in Ludwigsburg an der Spitze der Behörde der Landesjustizverwaltungen und verschrieb sich seiner Arbeit mit einem durch und durch preußischen Pflichtethos. „Einer mußte es doch machen!“ sagte er oft. Die Akten, die er dort zu Gesicht bekam, ließen ihn nicht mehr los.

Bei Amtsübernahme 1963 standen weite Teile der öffentlichen Meinung gegen ihn. Viele wollten nichts mehr vom Nationalsozialismus wissen, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen. Und begannen nicht viele, die eifrig und ergeben dem Dritten Reich gedient hatten, jetzt ihre große Karriere gerade auch in der Justiz? Wenn ihm das gegenwärtig wurde, verspürte Alfred Streim oft eine stumme Wut: Dann steckte er sich eine seiner dicken Zigarren an und ignorierte sie auf seine ruhige Art.

7.116 Verfahren gegen 106.178 Beschuldigte hat die Zentralstelle eingeleitet – ein beachtliches Resultat und ein großes Verdienst von Alfred Streim. Später erhielt die Zentralstelle neben der Strafverfolgung weitere Aufgaben: Mitarbeiter wurden in Schulen und zu Vorträgen geschickt; ein Archiv wurde angelegt.

In dem hat unter anderem Daniel Goldhagen für „Hitlers willige Vollstrecker“ die Berichte und Aussagen über die Verbrechen des Polizeibataillons 101 recherchiert.

Alfred Streim hatte sich gewünscht, daß die Zentralstelle als ein kollektives Gedächtnis der Nation erhalten bleibt.

Nun ist mit Polen ein anderes Land der Würdigung seiner beharrlichen Arbeit zuvorgekommen, einer Arbeit, von der er niemals abließ, auch wenn er, wie er in einem Interview vor wenigen Monaten noch sagte, manchmal auch gern alles hingeschmissen hätte. Alfred Streim hatte noch viel vor. Das müssen nun andere übernehmen. Tomas Fitzel