■ In Moskau wird spekuliert: Ist der Monarch Boris Jelzin nur noch eine Marionette seiner Prinzen? Der Kampf um das Erbe tobt. Und Lebed könnte nach seiner erfolgreichen Grosny-Reise als lachender Sieger und brillanter Stratege dastehen
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In Moskau wird spekuliert: Ist der Monarch Boris Jelzin nur noch eine Marionette seiner Prinzen? Der Kampf um das

Erbe tobt. Und Lebed könnte nach seiner erfolgreichen Grosny-Reise als lachender Sieger und brillanter Stratege dastehen

Mission: Possible

Das Stück heißt „Such den Präsidenten“ und wurde schon oft gegeben. Zweimal hintereinander, Montag und Dienstag, mußte der neue Präsidentensprecher Sergej Jastrschembskij dementieren, daß Boris Jelzin schwer herzkrank sei. Weder in der Schweiz zur Herzoperation noch in der Moskauer Tschasow-Herzklinik zur Vorbereitung darauf sei der Präsident, sondern in einem Regierungssanatorium 400 Kilometer nordöstlich von Moskau, um nachzuschauen, ob man dort Urlaub machen könne, verlautbarte Jastrschembskij. Gestern ließ sich der Präsident im Kreml blicken – tauchte jedoch nur für fünf Sekunden ohne Ton im Fernsehen auf.

Das Prinzengerangel in Moskau ist in jedem Fall in vollem Gange – und auch die Ratgeber des siechen Monarchen mischen kräftig mit. Besser für sie ist es allerdings, ihn durch die hohe Kunst der Leibärzte halb am Leben zu halten, damit sie zunächst durch sein Abbild weiter regieren können. Als Beweis für Jelzins Arbeitsfähigkeit gelangten in den vergangenen Tagen zahlreiche unterzeichnete Präsidentendekrete an die Öffentlichkeit. Doch wer hat sie verfaßt, wer abgesegnet? Hat Jelzin das Zarenzepter noch in der Hand? Alexander Lebeds Sprecher äußerte am Mittwoch den ungeheuerlichen Verdacht, das allerneueste Tschetscheniendekret stamme nicht von Jelzin selbst. Die Unterschrift sei ein Faksimile.

Die Situation ist verworren und spekulativ. Vier Versionen werden in Moskau meist angeboten: Erstens: Lebeds Sprecher hat unrecht. Jelzin gab tatsächlich den Befehl zum erneuten Sturm auf Grosny und ist, wenn schon nicht gesund, so doch mindestens noch Herr über seine Untergebenen. Zweitens: Jelzin ist amtsunfähig, aber die Kremlbeamten wollen das nicht zugeben, weil sie ihre Macht nur durch den kranken Präsidenten beziehen. Unklar ist hier, wer bei diesem kalten Staatsstreich die Rolle des Bösewichts spielt. Der prädestinierte neue Administrationschef Jelzins, Anatolij Tschubais, ist in Dänemark im Urlaub.

In der dritten Version spielt das Herz von heute die Rolle der Nase von gestern: Im Dezember 1994 verschwand Jelzin gerade in der entscheidenden Angriffsphase im Krankenhaus, um seine Nasenscheidewand korrigieren zu lassen. Frisch genesen, kritisierte er scharf die Dilettanten in Armee und Innenministerium und schwang sich in die geliebte Rolle des guten Zaren, dessen unfähige Minister ihn hintergangen haben.

Lebed, der sich nach seinem überraschenden Wahlerfolg herkulesgleich daran macht, den Korruptionsstall auszumisten, wie im Wahlkampf markig versprochen, läßt noch Platz für eine vierte Version: Jelzin, ob nun krank oder todkrank, ist aus dem Spiel und der Kampf um seine Nachfolge voll entbrannt. Das Hauptindiz gab Lebed selbst: „Das Ultimatum war von Anfang an ein verunglückter Scherz, das war doch allen klar“, tönte der Exgeneral auf dem Weg nach Tschetschenien. Wenn es aber allen klar war, warum dann die Aufregung? Wem waren die wildgewordenen Generäle Pulikowski und Tichomirow unterstellt, wenn in Moskau Verteidigungsminister Igor Rodjonow (in die Regierung als „Lebeds Mann“ gekommen) den inzwischen abgelösten Pulikowski hart kritisiert? Der Verdacht liegt nahe, daß hinter dem ganzen Theater Lebed selbst steckt, um am Ende als großer Friedensstifter dazustehen. Für die nächsten Wahlen wäre das schon die halbe Miete.

Das hieße möglicherweise auch, daß eine andere Kremlstrategie nicht aufgegangen ist: Nach Lebeds Ernennung herrschte allgemeines, vom dagestanischen Oberhausabgeordneten Ramasan Adulatipow laut ausgesprochenes Einverständnis, daß sich Lebed am Tschetschenienkrieg die Finger verbrennen werde und damit aus dem Spiel sei.

Auch Lebeds Frontalangriff auf Innenminister Anatolij Kulikow am vergangenen Freitag ließe sich in Version vier integrieren. Schon bevor er Kulikow als Hauptschuldigen des jüngsten Grosny-Dramas outete und von Jelzin ultimativ verlangte – „der Präsident hat eine schwere Entscheidung zu treffen: entweder Kulikow oder ich“ –, muß Lebed klar gewesen sein, daß diese Sturmattacke abgeschlagen würde. Jelzin, als Sturkopf bekannt, hatte gerade zwei Tage zuvor die neue Regierung ernannt. Die Chancen, daß er sich so schnell von Kulikow trennen würde, waren von vornherein gering. Sollte Lebed aber schon vorige Woche im Wahlkampf gewesen sein, dann macht selbst diese Niederlage Sinn: Erstens provoziert Lebed so eine Reaktion Jelzins oder seiner Marionettenführer. Sie mußten ihren Präsidenten reagieren lassen. Außerdem hätte Lebed bei schlechtem Ausgang seiner Tschetschenienmission immerhin für sich reklamieren können, er habe die Schuldigen benannt, Jelzin ihn aber seine Arbeit nicht machen lassen.

Was auch immer passiert ist, die Zeit nach Jelzin scheint bereits begonnen zu haben. Und Lebed hat, sollte sich diesmal tatsächlich so etwas wie Frieden in Tschetschenien einstellen, die besten Aussichten. Mit im Rennen sind Viktor Tschernomyrdin, dessen Stern allerdings sinkt, Jurij Luschkow, gerade mit 89 Prozent wiedergewählter Moskauer Bürgermeister, sowie der Kommunist Gennadij Sjuganow. Einflußreiche Hintermänner aus dem Jelzin-Apparat wie Anatolij Tschubais haben wohl kaum eine Chance. Tschubais muß mit dem Ruf des sozialfeindlichen Brachialprivatisierers leben und ist in der Bevölkerung schlicht nicht mehrheitsfähig. Sein Einfluß besteht aus exzellenten Verbindungen zu den Geldgebern, die jeder Präsidentschaftskandidat außer dem kommunistischen haben muß. Erschwert würde das Gerangel um die Kandidatur des aktuellen Establishments durch die teilweise offene Feindschaft zwischen Tschernomyrdin, Luschkow und Tschubais. Lebed hat sein Programm schon bei den Verhandlungen mit den Rebellen ausgesprochen: „Wir haben den Willen, wir werden alles versuchen.“ Jens Siegert, Moskau