Wunderkinder nicht im Hamburger Blick

Modell Begabtenförderung: Viele Lehrer haben vergessen, wie das geht  ■ Von Patricia Faller

Mit 17 hat Ingo Schröder in diesem Jahr Abitur gemacht, der Notendurchschnitt: 1,3. Im Herbst beginnt er sein Mathematikstudium in Göttingen. Damit ist das Mathe-Wunder zwar noch um Jahre älter als die Engländerin Ruth Lawrence, die bereits als 12jährige zum Mathematikstudium an der Uni Oxford zugelassen wurde, um zwei Jahre später ein hervorragendes Abschlußexamen zu machen. Er gehört aber zu den 35 Auserwählten, die während eines zweieinhalbjährigen Hamburger Modellversuchs eine Klasse übersprangen.

Das besondere an dem Projekt war der Förderunterricht, durch den der ehemalige Schüler des Hansa-Gymnasiums in Bergedorf den Wissensvorsprung der Älteren bald aufgeholt hatte. Einmal die Woche, wenn seine MitschülerInnen die ersten beiden Stunden frei hatten, paukte Ingo Schröder Mathe, Chemie und Englisch, doch nur wenige Monate lang. Nach den Erfahrungen dieser Modellphase wurde der Förderunterricht zur Unterstützung der SpringerInnen mit einer Wochenstunde in diesem Schuljahr regulär eingeführt.

Begabtenförderung kommt wieder in Mode. Doch die LehrerInnen wissen nicht mehr, wie das geht. Der jahrelange „einseitige Hamburger Blick“ auf die Förderung schwächerer SchülerInnen habe ihnen den Blick für die Bedürfnisse der kleinen „Genies“ verbaut, stellte die Lehrerin Mechthild Uhde während einer Fachtagung unlängst fest. Die Koordinatorin für den Modellversuch am Luisen-Gymnasium in Bergedorf hält vor allem die Diagnosefähigkeit für geschwächt: Wie erkennt man überhaupt Hochbegabte? Denn SchülerInnen, die sich langweilen und unterfordert fühlen, neigen nicht selten zu Leistungsverweigerung, spielen die Klassenclowns oder verhalten sich besonders arrogant.

An den sieben Gymnasien und zwei Gesamtschulen, die am Projekt beteiligt waren, sprachen die LehrerInnen bei 300 beobachteten SchülerInnen 120 Empfehlungen für eine individuelle Schulzeitverkürzung aus. Aber nur 35 Begabte folgten dem Vorschlag. Am Luisen-Gymnasium zogen es die zehn ausgesuchten SchülerInnen vor, in ihrer bisherigen Klasse zu bleiben. Ihre Gründe sind charakteristisch auch für die anderen Nicht-Springer: Die meisten fürchten sich vor einer Außenseiterrolle in der neuen Klasse und wollen nicht als Streber abgestempelt werden. Andere ziehen einen einjährigen Auslandsaufenthalt vor oder fürchten, zu Hause mehr arbeiten zu müssen. Einige bangen auch um eine gute Abiturnote oder wollen mangels Berufs- oder Studienperspektiven keine Schulzeitverkürzung.

Diejenigen, die den Sprung wagten, taten dies vor allem, weil sie auf neue Freundschaften hofften, wie auch Ingo Schröder. Er war lange Zeit der Kleinste in der Klasse und tröstete sich mit dem Spruch: Geistige Größe zählt. Zu seinen MitschülerInnen hatte er keinen guten Draht. Deshalb kam ihm die Empfehlung, nach der ersten Hälfte der Klasse zehn in die Elf zu springen, sehr gelegen. Seine Eltern wollten „natürlich“ ihrem Sohn die Entscheidung überlassen, wie bei den meisten am Versuch Beteiligten. Im Zweifel hätten sie ihn jedoch schon ein „bißchen“ dazu überredet, gesteht seine Mutter.

Daß die Springer nicht unbedingt auf Erfolg und Spitzenpositionen aus waren und auch einen Notenabfall in Kauf nahmen, hat Wolfgang Schiebel vom Psychologischen Institut II der Universität bei seiner wissenschaftlichen Begleitung beobachtet. Die meisten waren zufrieden mit ihrer Entscheidung. „Was soll ich ein Jahr länger an der Schule“, hatte sich auch Ingo Schröder gesagt, „wenn ich schon früher an die Uni kann.“