Die Moral steht im Gesicht des anderen

Der Soziologe Zygmunt Bauman versucht der Postmoderne eine Morallehre zu schreiben. Er vermeidet Tugendkataloge und allgemeine Vernunftprinzipien, aber am Ende läuft auch seine Ethik auf sehr rigide Forderungen hinaus  ■ Von Jörn Ahrens

Zygmunt Baumans soziologisches Programm besteht nun schon seit einigen Jahren darin, Wege aus jenem Dilemma aufzuzeigen, in das sich nach seinem Urteil die Moderne verstrickt hat. Bauman plädiert für eine „Kultur der Ambivalenz“, mit der die Postmoderne ihre Vorgängerepoche überwinden soll. Die Moderne sieht Bauman durch einen Drang nach völliger Homogenität gekennzeichnet, die Egalität und am Ende auch Glück verspricht. In diesem Bestreben liegt aber zugleich auch ihr Potential an Gewalt und Terror. Der Drang nach Homogenität führt zum Projekt der Ausmerzung von allem, das anders ist.

In seiner „Postmodernen Ethik“ entfaltet Bauman weitgehend diese aus früheren Büchern („Moderne und Ambivalenz“, Junius Verlag, 1992; „Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust“, EVA, 1992) bekannte These und versucht nun, daran ein ethisches Konzept anzuknüpfen.

Wenn soziale Ambivalenz das Signum der Gegenwart ist, dann stellt sich die Frage, wie eine Moral aussehen soll, die dieser Lage Rechnung trägt. Oder grundsätzlicher: ob es so etwas wie eine Ethik der Ambivalenz überhaupt geben kann. Die alten Konzepte für Moral fußen auf der Annahme einer homogenen, verbindlichen Welt. Sie besitzen keine Reichweite mehr dort, wo eindeutige Regeln sich nicht mehr aufstellen lassen.

Um seinen Entwurf einer postmodernen Ethik zu erläutern, führt Bauman die Leser zunächst durch allerlei Pathologien der Moderne – den Nationalstaat, die Vermassung, die Verwirrung der Geschlechterverhältnisse, die Risikogesellschaft. Er stellt fest, daß wir uns in einer „aporetischen Situation“ befinden: „Autonomie rationaler Individuen und Heteronomie rationaler Führung konnten nicht ohne einander, aber sie konnten ebensowenig friedlich miteinander auskommen.“ Bauman sieht die Moderne am Ende in dem Konflikt zwischen den Prinzipien von Selbstbestimmung und Unterwerfung zerrissen, die beide im Begriff des modernen Subjekts angelegt sind.

In der Gegenwart der allgegenwärtigen Risiken, Katastrophen und Unübersichtlichkeiten brauchen wir nach Zygmunt Bauman eine Moral, die sich ihrer Ohnmacht gewiß ist, und die darum weiß, „daß es keine Garantie für moralisches Verhalten gibt“. Denn gerade die Festlegung bestimmter moralischer Codes könne dazu führen, die ethische Sensibilität zu verringern und damit letztlich der Gewalt Vorschub zu leisten.

Dagegen setzt Bauman eine Moral der Unsicherheit, die nicht von universalisierbaren Prinzipien oder Tugendkatalogen in die Pflicht genommen wird, sondern, wie Bauman im Anschluß an den Philosophen Emmanuel Lévinas schreibt, vom „Antlitz des anderen“, von der Wahrnehmung eines Gegenübers in Not. „Gerade die aus dem Unausgesprochenen hervorgehende Radikalität macht die Forderung felsenfest, unzerstörbar, unbedingt – genau zu der Begründung, auf die das moralische Selbst seine unsichere Sicherheit, seine ungewisse Gewißheit stützen kann.“

Solch ein moralisches Selbst ist, wie Bauman gern zugesteht, „immer von dem Verdacht gequält, es sei nicht moralisch genug“. Eine Moral, die ihre Begründung paradoxerweise daraus zieht, ihrer selbst nie sicher sein zu können, hat aber zum einen niemals Gelegenheit, ein Bewußtsein ihrer selbst zu entwickeln. Zum anderen ist ihr Antrieb am Ende doch wieder ein Zwang, wenn auch der bloße Zwang, „gut“ zu sein, das schlechte Gewissen in nuce.

So betrachtet erscheint die „postmoderne Ethik“ Baumanscher Prägung nur allzu heteronom. Eine solche Moralität kulminiert nicht von ungefähr in einem Pathos des Heiligen, der „die Konsequenzen des Für-Seins bis zu ihrem radikalen Ende, bis zur ultimativen Entscheidung auf Leben und Tod“ verfolgt. Bauman hat hier das Beispiel jener Helfer im Sinn, die gegen die Moral ihrer Zeit, spontan und oft mit Risiko für Leib und Leben, andere gerettet haben – wie Pater Kolbe, der durch das Opfer seines Lebens das eines Mithäftlings rettete.

Bauman rät uns, „die Heiligkeit der Heiligen als den einzigen Horizont anzunehmen“. Es entgeht ihm, daß eine derart rigide Moral, die das Leben der heiligen Opferbereitschaft unterordnet – jedenfalls wenn sie Grundlage einer Ethik für die Postmoderne werden soll –, selbst schon wieder gewaltsame Züge annehmen muß. Mit Ambivalenz hat das am Ende wenig zu tun. Im Begriff des Gewissens findet Bauman schließlich die Quintessenz, den unbestechlichen Antrieb aller Moral. „Im Zweifelsfall: befrage dein Gewissen. Moralische Verantwortung ist das persönlichste und unveräußerlichste der menschlichen Besitztümer und das kostbarste der Menschenrechte.“

Diese Frucht der „postmodernen Ethik“ ist nicht nur deshalb problematisch, weil Bauman den Gewissensbegriff erst ganz am Ende und völlig unvermittelt in die Arena wirft und es nicht für nötig hält, ihn zu explizieren. Es fehlt hier jedes Verständnis der repressiven Funktion des Gewissens, die schon Freud herausgearbeitet hat.

Zudem rückt Bauman in der Abqualifikation der Großstadt und der „Masse“ in gefährliche Nähe zur konservativen Kulturkritik. Er entpuppt sich hier als postmoderner Romantizist mit teils reaktionärem Vokabular. Dazu paßt auch, daß seine Sorge nicht unerheblich dem Erhalt traditioneller Werte gilt und er die heutige Jugend als Opfer eines sinnentleerten Hedonismus sieht.

Bauman, der Theoretiker der Ambivalenz, zeichnet ein allzu glattes und stimmiges Bild der Geschichte und der daraus folgenden „postmodernen Ethik“. Die These, daß die Welt schwierig wird und ist, baut leider auch bloß auf einer Theorie auf, die es sich einfach macht.

Zygmunt Bauman: „Postmoderne Ethik“. Hamburger Edition, 1996, 380 Seiten, geb., 58 DM