Glaube und fürchte dich nicht!

In Rußland feiert der Spiritualismus fröhliche Urständ. Wunderheiler haben Konjunktur, Politiker bemühen Astrologen. Und gehen Allianzen mit dem orthodoxen Klerus ein – gegen westliche Religions- und New-Age-Importe  ■ Von Irena Maryniak

Rußland, erklärte mir einmal ein befreundeter Jungianer, sei ein Anima-Land: psychologisch und kulturell beherrscht von Gefühl, Intuition, Mystizismus und Paranoia. Insofern fällt das weite und kaum je klar definierte Feld russischen Lebens und russischer Politik gewissermaßen auch eher in die Domäne der Wahrsagerei als in die rationaler Analyse.

In den Jahren der Sowjetherrschaft gehörten – trotz wissenschaftlichen Materialismus – Wörter wie „Geist“ und „Seele“ zum alltäglichen politischen Sprachgebrauch. In der Regel bezogen sie sich auf Begriffe wie Kollektivbewußtsein oder Gruppenidentität, das heißt, die Ideologen erklärten einem, das Kollektiv verhelfe zu spiritueller Reife. Inzwischen bemüht sich die orthodoxe Kirche, die vielen Dauergewächse des Aberglaubens in den Griff zu kriegen. Geisterglaube, Schamanismus, die Zaren und Generalsekretäre überdauerten, religiöses Sektierertum, Spiritualismus und Hexenglauben blühen und gedeihen, angereichert durch New-Age-Importe aus Indien, Japan, Korea und den USA.

Glaube also und fürchte dich nicht! Eine gebogene Sicherheitsnadel über deiner Eingangstür schützt dich vor dem bösen Blick. Stört negative Bioenergie deine Aura, ist gewiß ein Heiler, Zauberer oder eine Hexe in deinem Wohnblock zu finden, gern bereit, dich mit Gesängen zu heilen oder dir wenigstens eine entspannende Massage zu offerieren. Braucht dein Berufsleben etwas Auftrieb, versuch's mit einer Absolventin der Moskauer Hexenschule: „jung, attraktiv, gut gekleidet und mit angenehmer Stimme“. Immerhin hat sie 5.000 Dollar bezahlt für ihre Ausbildung in Psychoanalyse, Hypnose, außersinnlicher Wahrnehmung, Tarot, Traumdeutung, Kräuterheilung, Wahrsagerei und Bekämpfung von Poltergeistern.

Oder versuch's bei der berühmten Sterndeuterin Tamara Globa. Ein Schnäppchen für 500 Dollar. Zu ihren Klienten gehören Ruslan Kasbulatow und Wladimir Schirinowski, sagt man. Allerdings mußt du ihre Telefonnummer gut aufbewahren, denn nach Präsidentendekret dürfen spirituelle Heiler nicht öffentlich für ihre Dienste werben.

Jelzin und Generäle unter Hypnose

Nicht, daß auch Boris Jelzin sich jeder außersinnlichen Hilfe gänzlich verschlösse. In der ersten Runde der Präsidentenwahl marschierte eine eindrucksvolle Phalanx prominenter AstrologInnen und ZauberInnen auf, die vor Unruhen und Blutvergießen im Vorfeld der Wahl warnten. Die Bombe, die am 11. Juni in der Moskauer Metro explodierte, hat ihre Position nur gestärkt. Vizedirektor von Jelzins Sicherheitsdienst war ein gewisser General Georgy („Zhora“) Rogosin, früherer KGB-Offizier, dem man eine langjährige Nähe zum Okkulten nachsagte. Rogosin war auch leitender Wissenschaftler der ersten Abteilung des Instituts für Nationale Sicherheit, in dessen Laboratorien er angeblich freie Hand hatte, seine Interessen zu verfolgen – Experimente in telepathischer Kommunikation und Informationsbeschaffung durch Gehirnstrommessungen.

Ernstzunehmende Moskauer Journalisten berichteten von der Angst, mit der die bis heute von Überwachungsanlagen terrorisierte Kreml-Elite von diesem nachgemachten Albarus spricht. Sie zeichneten das Bild einer Präsidentschaft, die sich astrologischen Weissagungen, fliegenden Untertassen, Heilsitzungen und der Kabbala unterordnet. Politisch ist Rogosin Anhänger von Jelzins Bewegung „Reformen: der neue Vertrag“, die mit dem Slogan „Demokratie, Patriotismus, Staat“ für eine Restauration der Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft eintritt. Seine etatistischen Aktivitäten haben Hexerei als Instrument der politischen Kultur nach Rußland zurückgebracht.

Vielleicht sind die Angehörigen von Staat und Militär ja schon durch ihre intensive gesellschaftliche Verzahnung zur bevorzugten Klientel der Außersinnlichen geworden. Die mystische Heilerin Dzhuna Dawitaschwili sieht man in Militäruniform und mit militärischen Abzeichen geschmückt. Sie wurde dadurch bekannt, daß sie angeblich Leonid Breschnews letzte Lebensjahre mit heilenden Kräften begleitete. Jetzt, scheint es, hat sie gute Beziehungen zu Boris Jelzin. „Geschäftsgespräche“ nennt sie es: „Er respektiert mich, ich respektiere ihn.“ Zu ihren Freunden zählen auch Moskaus Bürgermeister Juri Lushkow und Jelzins Personalchef Sergei Filatow. Daneben gibt es noch den Zauberer Juri Longo, der Séancen vor laufenden Fernsehkameras abhält und behauptet, er könne Tote wiedererwecken. Zu seinen Anhängern zählen angeblich auch KGB-Generäle, und er hat Hypnosesitzungen abgehalten, um die ehemalige Geheimpolizei von schlechten Energien zu befreien.

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Um nicht ganz aus dem Rennen zu geraten, hat auch die orthodoxe Kirche ihre alten Exorzismusrituale entstaubt und bietet einen neuen Service zur Seelenreinigung an. Viele Rechtgläubige haben keinerlei Skrupel, sich an Schamanen und Zauberer zu wenden – trotz unmißverständlicher Verdammung von Wahrsagerei und Parapsychologie als Teufelsanbetung durch die Kirchenoberen.

Aufschwung für die orthodoxe Kirche

Dem großen Aufschwung orthodoxer Kirchengläubigkeit Anfang der neunziger Jahre folgte ein deutlicher Interessenabfall – was am geringen Zustrom zu den zwar majestätischen, aber doch sehr langatmigen Gottesdiensten abzulesen ist. Jüngeren Schätzungen zufolge hält sich zwar immer noch die Hälfte aller Russen für im weitesten Sinne christlich, aber Meinungsumfragen lassen den Schluß zu, daß die, die sich als Christen bezeichnen, auch eine Tendenz zur positiven Beurteilung der Kommunistischen Partei und Stalins haben und dem Schutz von Menschenrechten keine allzu große Bedeutung beimessen.

Als nationale Institution hat die Kirche jedoch mit einer offiziellen Sympathiequote von 53 Prozent immer noch mehr Anhänger als der Präsident, die Kommunistische Partei oder die Armee. Was eigentlich nicht überraschen sollte. Denn ein ganzes Jahrtausend lang hat sich Rußlands Selbstbewußtsein als Nation durch den Mythos seiner Identität als „rechtgläubige“ erhalten: „Rechtgläubiger“ oder pravoslavnyi ist das russische Wort für einen orthodoxen Christen. Wenn die Menschen heute angesichts einer seit siebzig Jahren zum Schweigen gebrachten und infiltrierten Priesterschaft dieser durchaus ambivalent gegenüberstehen, so sind sie dennoch willens, die orthodoxe Kirche als Trägerin ihrer nationalen Identität und einzige Organisation des Landes, die die historische und moralische Integration des Staates ausdrückt, zu unterstützen.

Wie früher die Kommunistische Partei funktioniert die Kirche heute wie ein Club, der Gemeinschaft, soziale Dienste und Unterstützung bietet. Der Mangel an Begeisterung für Bildung, Wissenschaft und kulturellen Fortschritt bei vielen der Tradition verhafteten Priestern und ihre Forderung nach Demut, Nachgiebigkeit, Geduld und Gehorsam besitzen für eine orthodoxe Christenheit, die derzeit eifrig versucht, sich auf dem freien Markt durchzusetzen, allerdings keine besondere Attraktion. Aber als Katalysator für die Restauration von Gemeinschaftssinn und kollektiver Selbstachtung in harten Zeiten kann keine politische Partei ihr das Wasser reichen.

Sich mit dem Patriarchen zu verbünden gibt allen, Kommunisten, Nationalisten und Reformern, die Gelegenheit, ihre moralische Glaubwürdigkeit zu stützen. Auch der neue Sicherheitschef General Alexander Lebed zeigt sich in der Öffentlichkeit mit Kirchenmännern; alle werfen sich der Kirche an den Hals – von Wladimir Schirinowski über Wiktor Tschernomyrdin bis Gennadi Sjuganow. Selbst die neue Kommunistische Partei hat die vorrevolutionäre Vorrangstellung der orthodoxen Kirche anerkannt und spricht von einem Großreich auf der Basis von „Freiwilligkeit“.

„Aufklärung“ für den „dunklen Kontinent“

Die Kirche ist zu einer Dachorganisation für aufsteigende Politiker und Parteien geworden, aber die zarten Pflänzchen religiöser Pluralität bleiben Anlaß zur Sorge. Schätzungsweise vier Prozent der Bevölkerung beteiligen sich an „sektiererischen“ Aktivitäten, und 1996 wurden offiziell 12.000 religiöse Gemeinschaften registriert. Hinzu kommt die Flut penetranter ausländischer Missionare (seit dem Fall der Berliner Mauer etwa 30.000), die Osteuropa, diesen neuen „dunklen Kontinent“, mit ihren Bibeln, Broschüren, kostenlosen Englischkursen und Versprechungen von Studienreisen in den Westen überschwemmen.

Im Sommer 1993, als sich 2.000 Zeugen Jehovas im Moskauer Lokomotiv-Stadion öffentlich taufen ließen, begann die Kirche mit einer Gesetzgebungskampagne zur Kontrolle unerwünschter religiöser Importe. Seitdem versuchen Kirchenleute im ganzen Land, polizeiliche Maßnahmen gegen Neuankömmlinge zu initiieren. So versuchte beispielsweise der Metropolit von Orenburg, die Kosaken seiner Region dazu zu bewegen, Versammlungen amerikanischer Adventisten zu stören – die Regionalverwaltung ließ das jedoch nicht zu.

„Wie Afrika unter der Kolonialherrschaft wird unser Land als Versuchsfeld gesehen, sich im Export von ,Hochkultur und Aufklärung‘ zu üben“, schrieb Pater Aleksy Moros in einem weitverbreiteten Kirchenblatt. „Man scheut keine Kosten, um die Reste des orthodoxen Glaubens in unseren Herzen zu zerstören, um Rußland in einen Zustand spiritueller und wirtschaftlicher Knechtschaft zu versetzen, es westlichen Einflüssen zu unterwerfen, ihm westliche Kultur und Stereotype überzustülpen.“

Selbsternannte Götter und Inkarnationen

Fundamentalistische Baptisten, Mormonen, die unitarische Kirche (die das Buch „My World“ als Werbung in 2.000 russischen Schulen verteilte), Hare Krishna (die von 700.000 russischen Anhängern sprechen) und Scientologen (über 12.000 allein in Moskau) werden von der Kirche und den Medien des Landes zunehmend als schädlicher Einfluß angesehen. Selbst der japanische Kult Aum Shinri Kyo – der vermutlich hinter den Terrorangriffen mit Nervengas in der Tokioer U-Bahn vom März 1995 steht – hat 30.000 Anhänger in Rußland und ein Vermögen von über sieben Millionen US-Dollar.

Die neuen Religionen kommen in allen möglichen Formen: hausgemacht und aus dem Ausland importiert; einige als geschlossene Gruppierungen, andere darauf bedacht, ihre Anhänger um Haus und Hof zu bringen, während sie Paranoia schüren angesichts der Jahrtausendwende; wieder andere sind eher sanft und wohlwollend. Der „Muttergotteskult“, der von einem Mönch gegründet wurde, ergeht sich in Haßtiraden gegen alle Frauen, die keine Reue empfinden. Und „Wissarions Kirche des Letzten Grundsatzes“, gegründet von einem ehemaligen Polizisten und selbsternannten Messias, baut die Ökostadt „Sun City“ im sibirischen Urwald.

Immer wieder gibt es auch Skandalgeschichten, wie beispielsweise die um die „Weiße Brüderschaft“, die heute in Rußland und in der Ukraine im Untergrund operiert. Ihre Anführer, Juri Kriwonogow (ehemaliger Wissenschaftler mit dem Spezialgebiet Gedankenkontrolle, angeblich früher unter anderem beim KGB unter Vertrag) und Marina Tswigun (früher Journalistin, die nach einer Abtreibungsserie eines Tages aufwachte und sich zu Gott erklärte), rekrutierten erfolgreich 7.000 Mitglieder in drei Jahren.

Auf höchst konfusen, aber in der gesamten GUS verteilten Flugblättern wurde Tswigun alias Maria Devi Khristos, wie sie sich jetzt nennt, zur zweiten Inkarnation Christi erklärt, als welche sie die Apokalypse am 14. November 1993 einleiten sollte: Khristos werde auf den Stufen der St.-Sofia- Kathedrale von Kiew zusammen mit ihren Anhängern sterben und drei Tage später wiederauferstehen. Tausende von Kultanhängern strömten in die Stadt, meist unterernährt aussehende Teenager, manche von ihnen ihre ängstlichen Eltern im Schlepptau, um den Tag des letzten Gerichts zu erwarten.

Aber die Welt drehte sich weiter: 989 Menschen wurden verhaftet. Sie sangen und traten in einen Hungerstreik, der sich bis Dezember hinzog; es gab Bombenwarnungen gegen Regierungsgebäude, Kirchen und das Kernkraftwerk von Tschernobyl. Dann erklärte Kriwonogow, man habe sich verrechnet. Er und Marina wurden wegen Anstiftung von Massenunruhen und Gefährdung der öffentlichen Gesundheit angeklagt und zu sieben beziehungsweise vier Jahren Gefängnis verurteilt.

Kommunisten gegen Missionare

Die Kampagne der orthodoxen Kirche und ihre Versuche, in- und ausländische Kulte oder missionarische Aktivitäten zu beschneiden, haben bei internationalen Beobachtern Besorgnis ausgelöst. Die Erinnerung an religiöse Verfolgung ist in Rußland noch frisch (200.000 Priester wurden in der Sowjetzeit ermordet, eine halbe Million wurde unterdrückt); zudem kann es sich Rußland nicht leisten, die humanitäre Hilfe religiöser Gruppen aus dem Ausland zu verweigern. Mit restriktiven Maßnahmen hat der Staat zwar zunächst versucht, den orthodoxen Klerus zu beruhigen, aber in letzter Zeit hat man wieder mehr die versöhnlichen Gesten, wie Steuervergünstigungen für religiöse Organisationen, betont.

Die Kommunisten sind allerdings offenbar entschlossen, den Kampf gegen die „totalitären Sekten“ aufzunehmen und das Land von unwillkommenen ausländischen Missionaren zu säubern. Ihre Rhetorik wird als Plan zur Einführung repressiver Maßnahmen gegen New-Age-Bewegungen interpretiert, und obwohl die Partei Glaubensfreiheit auf ihre Fahnen geschrieben hat – für Orthodoxe, Altgläubige, Muslime und Buddhisten –, scheinen Protestanten und Juden offenbar davon ausgenommen zu sein.

Was die glatzköpfigen Mitglieder der Neonazipartei „Russische Einheitspartei“ betrifft – allesamt übrigens Unterstützer von Jelzin –, so behaupten sie weiterhin, daß das Hakenkreuz Rußlands wichtigstes religiöses Symbol sei („ein Symbol für Güte“) und daß ihr Gruß ein mittelalterlicher russischer Gruß sei, der die Hand vom Herzen zum Himmel führe.

Irena Maryniak ist Osteuropa-Spezialistin bei „Index on Censorship“.