: AKW Krümmel erst mal vom Netz
Reaktor muß wegen Revision stilliegen. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts legt nahe, den Leukämie-Meiler vorläufig nicht wieder anzufahren ■ Von Jürgen Voges
Hannover (taz) – Heute wird das AKW Krümmel, in dessen Nachbarschaft Kinder extrem häufig an Leukämie erkrankt sind, vorläufig abgestellt. Der Grund dafür sind allerdings nicht Zweifel an der Sicherheit des Meilers, sondern die regelmäßige alljährliche Revision. Ob der Atommeiler im Herbst turnusmäßig wieder ans Netz gehen wird, ist trotzdem ungewiß. Immerhin hofft der Kieler Energieminister Claus Möller (SPD), „daß die schriftliche Begründung des jüngsten Krümmel- Urteils des Bundesverwaltungsgerichts noch während des Revisionsstillstands bei uns eintrifft“. Dann werde die Reaktoraufsichtsbehörde, also das Ministerium selbst, sofort eingehend prüfen, welche Konsequenzen sich aus dem Urteil für die Atomanlage in Krümmel ergäben, versichert Ministeriumssprecher Hans-Friedrich Traulsen.
Das Kieler Energieministerium hat mehr zu prüfen als nur das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts selbst. Indem die Berliner Richter ein Urteil aufhoben, das eine Krümmel-Änderungsgenehmigung bestätigt, haben sie indirekt auch die vom Energieministerium erteilte Änderungsgenehmigung selbst angegriffen. Bei der Änderungsgenehmigung hätte geprüft werden müssen, ob alle vom Reaktorkern beeinflußten Teile des AKWs dem Gebot der Schadensvorsorge noch genügten. Dabei seien auch die in der Umgebung der Anlage bekanntgewordenen Leukämiefälle zu berücksichtigen, entschieden die Berliner Richter. Das Urteil stellt so den Normalbetrieb des Kraftwerks auf den Prüfstand. Für die von der Änderung betroffenen Anlageteile, wird „die Genehmigungsfrage erneut aufgeworfen“, wie das Bundesverwaltungsgericht schreibt.
Auf die schriftliche Begründung aus Berlin kann man in der Tat gespannt sein. Denn das Urteil kehrt die Beweislast in der für die Zukunft von Krümmel entscheidenden Leukämiefrage wahrscheinlich um. Behörden und Betreiber hätten dann anläßlich der Änderungsgenehmigung nachzuweisen, daß der Reaktor keinen Schaden anrichtet, daß er also nicht für die Häufung von Leukämiefällen in der Elbmarsch verantwortlich ist. Zumindest die mündliche Begründung des Urteils spricht bisher für diese Umkehr der Beweislast.
Zahlreiche Indizien legen seit langem nahe, daß der Leukämiecluster in der Elbmarsch auf den Reaktor zurückgeht. Die in dieser Woche eingereichte Begründung der Klage, mit der der Arzt Hayo Diekmann Schleswig-Holstein zur Reaktorstillegung zwingen will, listet die Indizien noch einmal auf. Das beginnt bei der Häufung von Leukämiefällen im Kilometer-Radius um das Kraftwerk selbst. Auch die erhöhte Rate von veränderten Chromosomen bei Anwohnern, die auf eine radioaktive Belastung in der Vergangenheit verweist, nennt Diekmann. Der Arzt verweist weiterhin auf die erhöhten Radioaktivitätsbelastungen auf dem Dach des Reaktors.
Kläger Diekmann wohnt nicht nur in der Nähe des AKWs, sondern ist auch Mitglied der Expertenkommissionen der Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein, die seit Jahren die Leukämiehäufung in der Elbmarsch untersuchen und sich darüber heftig zerstritten haben. Im Auftrag der Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen soll deswegen im September unter Leitung des Bremer Epidemiologen Eberhard Greiser mit einer großangelegten Studie und 6.000 Interviews den Ursachen der Krebserkrankungen noch einmal nachgegangen werden. Bis zum Frühjahr 2000 würde nach Angaben von Professor Greiser die Studie fertig sein. Der niedersächsische Sozialminister Walter Hiller (SPD) hat vorgeschlagen, das AKW Krümmel bis zum Abschluß der Leukämie-Untersuchungen stillzulegen. Die schriftliche Begründung des Bundesverwaltungsgerichts könnte auch Kiels Energieminister Möller durchaus dazu zwingen, bis zur Klärung der Leukämiefrage endlich dem Prinzip der Schadensvorsorge den Vorrang einzuräumen.
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