Sinngebung des Sinnlosen light

Am Montag beginnen die 46. Berliner Festwochen, Motto „Kulturtransfer Frankreich–Deutschland“. Musik aus vollen Rohren, eine Ausstellung, und Kleist reißt's raus. Pourquoi pas?  ■ Von Fritz v. Klinggräff

Auf dem Trottoir läuft in Berlin schon lange keiner mehr. Im Hugenottenviertel Kreuzberg trottet man auf deutschen Bürgersteigen in deutsche Hundekacke, und wer bei einer „Pulle“ Bier an die Bouteille denkt, sollte erst mal einen heben. Die Besatzungsmacht des Quartier Napoléon ist abgezogen, noch gibt es ein paar Jahre Billigbusse für die Ausgemusterten: Paris–Berlin retour.

Der deutsch-französische Kulturtransfer hat sich soweit erledigt. Von Beutekunst (allemal kostbarste Form interkulturellen Austauschs) keine Spur mehr. Die Demütigung der Grande Nation, die deutsche Kaiserproklamation in Versailles, verewigt auf den Reliefs der Siegessäule, hat uns Paris zurückgebracht: Behaltet euren Dreck! Da schlägt traditionell die Zeit der Hochkultur: zu retten, was es an nationaler Differenz durch die Betonung von Gemeinsamkeiten zu retten gibt.

Am Montag eröffnet Stéphane Hessel, UNO-Gründungsmitglied und Sohn des Paris-Flaneurs Franz Hessel, die 46. Berliner Festwochen. Offizieller Titel: „Von Frankreich nach Deutschland – De l'Allemagne et de la France“. Im Apollo-Saal der Staatsoper wird Harfenmusik ertönen. Dann kommt das übliche Festwochenprogramm: viel Drumherum mit einer großen Ausstellung im Zentrum. Insbesondere Musik aus vollen Rohren, wobei der Intendant von det Janze, Ulrich Eckhardt, netterweise zugibt, daß es hier nicht so drauf ankommt. Brahms zum Beispiel steht dieses Mal an erster Stelle, weil der Abbado zur Zeit am besten ins Konzept paßt (siehe Interview). Sinngebung des Sinnlosen light – nach 24 Arbeitsjahren kann Eckhardt sich das leisten.

Außerdem gibt es ja noch „Nebenan“. Das Programm am Hebbel-Theater reißt wie üblich die Chose aus dem Dreck: Kleist in der Regie von Stéphane Braunschweig, Grabbe in der Übersetzung von Bernard Pautrat, Ariane Mnouchkines Sonnentheater mit „Tartuffe“, Gastspiele aus Frankreich und Berlin zum 100. Artaud- Geburtstag.

Artaud und Lothar Baier helfen dir

Schöner als vor den ausverkauften Kassenhäuschen ist es nur noch zu Hause vor dem Radio. SFB3 (UKW 96,3) ist wunderbar und macht morgen, am Sonntag von 18.30 bis Mitternacht, Artaud: „Herr Antonin Artaud, geboren den 4. September 1896 in Marseille“, „Ich habe mit Artaud über Gott gesprochen – Sylvère Lotringer interviewt Dr. Jacques Latrémolière, Arzt in Rodez“, „Artaud erinnert sich an Hitler und das Romanische Café“, „Bei den Tarahumaras – Artaud in Mexiko“.

Blätternd im Festwochenjournal, kommt man jetzt langsam in Fahrt. Beim Stichwort Artaud fehlt noch der Hinweis aufs Arsenal. Stichwort Radio: Am Mittwoch gab es eine Sendung über Stéphane und Ulrich Hessel, ätschbätsch! Aber da ist ja noch Manfred Flügge, bei dem man's nachlesen kann („Paris ist schwer“). Apropos: Die Literaturwerkstatt macht Mitte September eine „Semaine de littérature française“, Lothar Baier und Flügge helfen ihr auf die Beine.

Und dann die Ausstellung im Gropius-Bau. Thema ist Frankreich/Deutschland 1789 bis 1889. Marie-Louise von Plessen, die ihre Ausstellungen zum „750.“ und zu „Bismarck“ routiniert über die Bühne gebracht hat, karrt heran, was sie nur kriegen kann: natürlich den ganzen Denkmalsscheiß des 19. Jahrhunderts, das ist ja auch ihre Aufgabe als Staatshistorikerin. Alte Reisepässe von Hölderlin und Ludwig Richter, Inkunabeln, Autographen, „Mariannes“ und „Germanias“ in allen Variationen.

So ist das eben, wenn mal wieder das unglückselige 19. Jahrhundert fürs deutsch-französische Schlamassel herhalten muß. Jeder andere Zeitraum aber wäre diffiziler gewesen: Vor 1800 gab es Deutschland nicht – zumindest nicht als kollektive Bildmaschine, die kulturhistorisch was zum Verwursten abwirft; nach 1900 waren beide Länder nur noch Wiedergänger, kulturell: „Frankreich, das ist wie ein fliegender Holländer im Europa von heute. Das fährt tags mit amerikanischem Volldampf voraus und kehrt die Strecke nachts mit vollen Segeln zurück.“ (Walter Mehring, 1927).

Für ihr 19. Jahrhundert nun hat sich Frau von Plessen eine kleine Kulturgeschichte ausgedacht, die sie uns auch gern mehrmals erzählt: wie die deutschen Freunde der Revolution zunächst auf Frankreich blickten. Wie daraufhin ab 1810 durch Mme. de Staäl konsequent zurückgeblickt wurde, wie Frankreich so zur „Kunde vom Reichtum deutschen Denkens und Dichtens“ kam und en bloc zur deutschen Romantik überlief.

Schön ist Kultur, macht man sie nur!

Und wie es dann bergabging: Erst kam der Sängerkrieg am Rhein, dann die Belagerung von Paris und zuletzt die martialischen Brüder Goncourt: „Frankreich muß die Vorstellung aufgeben, die es bisher von Deutschland hatte, über dieses Land, das es so gern nach dem Zeugnis seiner Schriftsteller beurteilt hat [...]: hinter ihrer Blondheit steckt die Heuchelei und finstere Unerbittlichkeit der rotblonden Rassen.“ Man kann das so erzählen. Maurice Agulhon, Frankreichs Kultusminister am Collège de France, der dem Katalog der Ausstellung den Eingangs-Essai liefert, wird das von seiner mediterranen Warte her gern bestätigen: Das Gemeinschaftsleben schafft Gemeinsinn – Wohnen, Tradition und Weingenuß in Mußestunden; und wenn die Revolutionen des 19. Jahrhunderts die Gemeinschaft zu zerreißen drohen, findet die zu guter Letzt den „Marianne“-Kult als staatsbürgerliche Reflexionsfigur.

Schön ist Kultur, macht man sie nur! Zum Ende des Kulturmonats, am 27./28. September, wird diese eine Geschichte von der gutgemeinten, aber niederkartätschten Kultur dann nochmals reflektiert. Das Centre Marc Bloch, Frankreichs neues sozialwissenschaftliches Zentrum für Europa in Berlin, macht eine große öffentliche Tagung zum „Deutsch-Französischen Kulturtransfer 1789–1889“. Guest-Star ist François Furet, der seinen Siebziger-Jahre-Hit „Tocquesville“ noch einmal runterrockt. Da sollte man hingehen – es wird das einzige Pop-Ereignis des Festmonats September. Weltoffenheit! Und Marktkompatibilität! Furet will das liberalisierte Europa, aber subito, der Rest sind Aufklärungsreste, Idiosynkrasien. Friedrich Kittler gehört zu denen, die ihm da recht geben. Auch seine Version von „Kulturtransfer“, die er beim Kolloquium im Berliner Abgeordnetenhaus präsentieren wird, steht der romantischen Geschichte der Mme. de Plessen diametral entgegen.

Der Held des Militärhistorikers vom Medieninstitut der Humboldt-Uni heißt Joseph Lakanal. Wir geben hier zum Schluß exklusiv noch den gestrafften Vorabdruck des Referats: Im Jahre 1794 – Frankreichs Nationale Volksarmee macht sich daran, Europa zu erobern – stellt Lakanal der Nationalversammlung den ersten (optischen) Telegraphen vor. Der Volkswille, so der Redner vor seinen begeisterten Vertretern, tritt ins technische Zeitalter. Wenn Hegel kurz darauf mit Napoleon „den Weltgeist zu Pferde“ in Berlin einreiten sieht, läßt er sich also schon von einem Simulacrum foppen: Pferd und Reiter sind nur noch traditionelle Personifikationen einer Pariser Telegraphenstation, von der aus sich die revolutionären Kriegsmassen gegen Preußens Reaktion vereinigen.

Der deutsche Geschichtsphilosoph also hat nichts kapiert und unterliegt sowohl der technischen als auch der symbolischen Kompetenz des Imperators. Im besetzten Berlin aber rüsten die Verlierer nach. Sömmerring entwickelt den elektrochemischen Telegraphen, und Kleist, wutschnaubend, erfindet mit seinem Kohlhaas die preußisch-protestantische Version des Volksheers: den Partisanenkrieg. Aus dem terreur wird Terrorismus. So komisch ist das mit Kulturtransfer: So ähnlich es auch klingt – eigentlich ist es doch was ganz anderes.

Bis 30.9., Programm und Informationen unter Telefon 25489-0

Die Ausstellung „Marianne und Germania“ eröffnet am 15.9. im Martin-Gropius-Bau, „Der Kampf um die Moderne“ am 25.9. in der Alten Nationalgalerie