Geistige Wesen

Exkursion durch die Selbstdarstellung eines Kultes: Die offizielle Schwarte „Was ist Scientology?“ bleibt Erlösungsbedürftigen keine Antwort schuldig  ■ Von Jörg Lau

Was zuallererst an diesem Buch einleuchtet, ist das wuchtige Format, die beeindruckende Seitenstärke (835), die schiere Schwere – es mögen an die drei Kilo sein –, Eigenschaften, die es unmöglich machen, liegend auf der Couch darin zu schmökern. Es will an einem Tisch gelesen werden, in würdiger, bibliotheksmäßiger Haltung, es scheut die privatistische Bequemlichkeit von Sessel und Sofa.

Wie könnte es auch anders sein, werden in „Was ist Scientology?“ doch die Grundsätze einer Glaubensgemeinschaft und die Geschichte ihrer Entdeckung durch den Religionsstifter erläutert. Und ein Kultus wie dieser, der immerhin beansprucht, das gesamte religiöse Wissen der Menschheit zu beerben, wäre schlecht beraten, seine Summa in Form eines kleinen Taschenbuchs unter die Menschen zu bringen, wenn es auch der Substanz nach möglich wäre.

Die Scientology-Kirche ist den alten Religionen des Buches, mit denen sie nicht einmal mehr konkurriert, weil sie sie überholt zu haben glaubt, tatsächlich in einem entscheidenden Punkt voraus: Die Überlieferung ihres Propheten ist viel umfangreicher, expliziter und verläßlicher als jene Heiligen Schriften älteren Typs, um deren Bedeutung und Authentizität sich die Gelehrten wohl ewig streiten werden. Damit stellt sich ein Problem, das dem der Theologie kraß entgegengesetzt ist.

Während etwa im Christentum die verbürgten Herrenworte durch die hermeneutische Textkritik immer mehr zusammengeschmolzen sind, fällt es eher schwer, ein Thema zu finden, zu dem L. Ron Hubbard keine dezidierte und stets richtungweisende Meinung hinterlassen hat. Ob zu den schwerwiegenden Problemen der modernen Ehe, zum besorgniserregenden Zustand der Psychiatrie, zur allfälligen Reform des Managements, zur Drogentherapie, zu den ethischen Herausforderungen durch die Kernenergie, zum Analphabetismus oder zum Leib- Seele-Problem – über alle denkbaren Fragen und noch darüber hinaus liegen Thesenpapiere, Tischgespräche, Vorlesungen, Broschüren und Grundsatzstudien des schreibwütigen Erleuchteten vor. „Diese Materialien über das Gebiet des menschlichen Geistes, die die Philosophie der Dianetik und der Scientology umfassen, sind heute auf Abertausenden von Seiten festgehalten. Tausende seiner Vorträge – und das sind nur die, die auf Tonband existieren – könnten ein Werk von über 100 Bänden füllen.“

Könnten? Man scheint sich nicht so ganz über den tatsächlichen Umfang des Werks im klaren zu sein. Ein anderes Mal heißt es, seine „religiöse Philosophie“ sei „in mehr als 5.000 Schriften, einschließlich Dutzender von Büchern und über 3.000 Tonbandvorträgen festgehalten“. Dann wieder lesen wir, „das gesamte Wissen, das Scientology ausmacht, ist auf Hunderttausenden von Seiten und in Millionen von gesprochenen Worten festgehalten – alle von L. Ron Hubbard, dem Urheber und Gründer der Scientology“. Wie dem auch sei, die Überlieferung ist umfänglich bis zur Unübersichtlichkeit.

Die Buchreligion eines Vielschreibers

Verwunderlich ist das eigentlich nicht. Denn Scientology hatte im Vergleich zu seinen Vorgängerreligionen wie Christentum, Islam und Judentum einen nicht zu unterschätzenden Startvorteil: L. Ron Hubbard war, bevor ihm 1950 mit „Dianetik“ ein Bestseller gelang, bereits ein manischer Vielschreiber, der sich von zahlreichen Science-fiction- und Abenteuergeschichten schlecht und recht ernährte. Für jene, die die Mühe scheuen, Hubbards weitschweifiges Werk nach seinen recht dürr gesäten Kernsprüchen zu durchforsten, gibt es nun diesen hilfreichen und zugleich repräsentativen Schmuckband, der sämtliche Versprechen hält, die er macht. Die Frage nach dem Sinn des Lebens etwa wird hier nicht erst kokett in den Raum und dann dem ratlosen einzelnen zur ewigen Suche anheimgestellt, wie wir es von den aufgeklärten Buchreligionen kennen – sie wird kurz und knapp beantwortet. Doch dazu später.

Das entscheidende Kapitel macht uns, wie es der Sache entspricht, mit dem „in jeder Hinsicht außerordentlich abwechslungsreichen und interessanten Leben“ und den ohne Ausnahme bahnbrechenden Entdeckungen des Gründers bekannt. Es fängt schon gleich vielversprechend an. Wie es bei Religionsstiftern so üblich ist, fallen früh schon Schatten der Auserwähltheit auf das junge Leben: „Mit dreieinhalb Jahren konnte er nicht nur reiten, sondern auch Wildpferde mit dem Lasso einfangen und zähmen, mindestens so gut wie jeder andere.“ Da wundert es nicht, daß Ron schon in frühen Jahren die Anerkennung eines „sonst eher schweigsamen Indianers“ gewinnen konnte. Jener war „ein alter Medizinmann, der als ,Old Tom‘ bekannt war. Ron wurde mit sechs Jahren zum Blutsbruder der Schwarzfußindianer ernannt; eine Ehre, die nur sehr wenigen Weißen zuteil wurde.“ Mit zwölf trat er den Pfadfindern bei, wo er schnell Karriere machte; bald war er der „jüngste Adler- Pfadfinder, den es je gegeben hatte“.

Es wäre erstaunlich, wenn jener Mann, der später entdecken sollte, daß der Mensch ein „geistiges Wesen“ ist, vorwiegend unter dem Einfluß geistferner Gesellen wie Pferde, Indianer und Pfadfinder aufgewachsen wäre. Aber ganz so war es denn auch nicht. Geistige Nahrung scheint ihm, da die Familie „für längere Zeit auf Reisen war“, nicht in Form regulärer schulischer Ausbildung zugeflossen zu sein. Dafür entschädigte ihn seine Mutter, eine „ungewöhnliche Frau“ und „äußerst gebildet“, die dem kleinen Ron half, „seine unbändige Neugier über das Leben mit Werken von Shakespeare, griechischen Philosophen und anderen Klassikern“ zu befriedigen.

Die Jugend, erfahren wir in Bild und Text, wurde für Ron eine Zeit des intensiven Reisens. Mit 19 Jahren hatte er bereits „eine Reisestrecke von mehr als vierhunderttausend Kilometern zurückgelegt“, nicht ohne auch bei einem weisen Magier in Peking, bei buddhistischen Mönchen und den „nomadischen Banditen“ der Tataren vorbeizuschauen – und prompt Freunde zu finden.

So weit, so gut. Merkwürdigerweise entsprach seiner Beliebtheit bei den Fremden in den fernsten Fernen eine seltsame Reserve, ja Feindseligkeit, mit der ihm manche Angehörige der eigenen Kultur begegneten. Ron bekam dies zu spüren, sobald er seine „formelle Ausbildung“ wieder aufzunehmen versuchte. Seine erste „bahnbrechende Entdeckung“, die nicht lange auf sich warten ließ, wurde von den Psychologen der George Washington Universität nicht ernst genommen. Dabei hatte er

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mittels eines Koenig-Photometers bewiesen, daß zwei Gedichte aus völlig verschiedenen Sprachen „dieselbe Wellenlänge“ hatten, womit, wie er messerscharf folgerte, „hier der wissenschaftliche Beweis vorlag, daß die Menschen nicht so verschieden waren, wie man ihn hatte glauben machen wollen, sondern daß es tatsächlich einen gemeinsamen Nenner gab“. Als die Psychologen diese Entdeckung mißachteten, begriff Hubbard, „daß ihn das College nicht weiterbringen würde“, und machte sich wieder „auf in die Welt, um mehr über das Leben herauszufinden“. Von seinen Reisen hat er in Heftchen wie „Thrilling Adventures“ Zeugnis abgelegt.

Daß der von der Wissenschaft so schmählich Brüskierte sich als Produzent von Unterhaltungsliteratur, vor allem Science-fiction- Geschichten, über Wasser hielt, haben wir schon erwähnt. Auf den Tableaus, die die Stationen seines Lebens im Stil des sozialistischen Realismus festhalten, ist seiner sinnenden Haltung an der Schreibmaschine schon anzumerken, daß er sich damit nicht begnügen wird. Hier sitzt jemand, der „Antworten auf die Rätsel des Menschen“ sucht. Allerdings geht religiös inspirierte Tagträumerei mit den Tagtraum-Welten der Fantasy-Literatur ja ohnehin gut zusammen.

Die Karriere von L. Ron Hubbard hat nun die Pointe, daß es diesem Schwärmer gelungen ist, aus seiner Tagträumerei ein Imperium zu machen, das seine Phantastereien anderen Tagträumern als eine Lehre verkauft, die „gänzlich auf gesundem Menschenverstand“ beruht. Diese Lehre ist vor lauter Ordnung so unübersichtlich geraten, daß man zahlreiche Spezialbroschüren und Kurse braucht, um ihre Verästelungen zu ergründen. So wird das Leben des Scientologen eine ewige Volkshochschule, eine prinzipiell unendliche Weiterbildung, bei der der Weg schon deshalb das Ziel sein muß, weil die Sache ja auf nichts weiter hinausläuft als darauf, gegen Gebühr einen neuen Kurs und immer noch einen neuen Kurs zu belegen. Daß ein verträumter Autodidakt mit lückenhafter Schulbildung wie Hubbard, der von der Wissenschaft auf sein natürliches Maß zurechtgestutzt wurde, seine Anhänger die eigene Demütigung mit endlosen Fantasy-Schulungen entgelten läßt, leuchtet als großangelegte Rache an der Welt unmittelbar ein. Die Systematik des Ganzen hat auch die Funktion, über seine Verrücktheit hinwegzutäuschen, was freilich das genaue Gegenteil bewirkt. Das große, diesem Buch beiliegende Blatt, auf dem die zahllosen Stufen des Seins tabelliert sind, die man vom Zustand der „Nichtexistenz“ bis zu den Erleuchtungsstufen des „Operierenden Thetans“ zu durchlaufen hat, ist eine Travestie des naturwissenschaftlichen Systemdenkens Darwinscher und Haeckelscher Provenienz und eine Karikatur theologischer Rationalität zugleich.

Erlösungsphantasien absoluter Kontrolle

Vielleicht ist die Sache deshalb so kompliziert aufgezogen, damit die Schlichtheit der Grundidee nicht so ins Auge sticht: Die „Technologie des Geistes“ soll es ermöglichen, sich von schmerzlichen Erinnerungen zu lösen, „geistigen Eindrucksbildern, die Engramme genannt werden“, und im „reaktiven Verstand“, einer Art Unterbewußtsein, gespeichert sind. In Sitzungen mit einem „Auditor“ werden diese Engramme aufgerufen und schließlich „gelöscht“, bis man den Zustand „Clear“ erreicht: „Er [der Clear; J. L.] kann sein Leben unbelastet von Einschränkungen führen, die ihm vergangene Engramme reaktiv aufgezwungen haben.“ (Die Erinnerung stellt sich Hubbard übrigens als „präzise Aufzeichnung der Vergangenheit eines Menschen“ analog zu einem Filmstreifen vor. Kein Wunder, daß weltanschaulich verwirrte Schauspieler eine solche Lehre sympathisch finden.) Die Auditing-Prozedur erfordert den Einsatz eines elektrischen Apparates, des E-Meters, einer Art Lügendetektor, dessen Nadelausschlag dem Auditor bei der Vernehmung zu bearbeitende Engramme anzeigt. Was auch immer es mit dem E-Meter auf sich hat, eine Funktion erfüllt er gewissenhaft: Er gibt dem Ganzen ein solide technisches Gepräge und verwischt die Spur zur „talking cure“ der Psychoanalyse, die hier nachgeäfft wird.

Antimaterialismus und Technikglaube

Der Kult der einmaligen Persönlichkeit, der von dem Erfinder vorgegeben wurde, und der Glaube an eine Technologie des Verstandes, die eine völlige Ummodelung ermöglicht, bilden eigentlich einen Widerspruch – ebenso der prononcierte Antimaterialismus und der gleichzeitige Glaube an die Wirksamkeit des E-Meters, der ja eine elektrische Meßbarkeit von Erfahrungen behauptet. Das Bekenntnis zur Kommunikation als hohem Wert verträgt sich nicht mit den Sehnsüchten nach Manipulation der Welt, die hier geschürt werden. Und so weiter und so fort.

Aber man sollte nicht allzu viel davon erwarten, daß die inneren Widersprüche der Sache so offen zutage liegen. Anhänger Hubbards wird man so nicht erreichen. Sie sind entweder im vollen Bewußtsein dabei, daß sie anderen für viel Geld blauen Dunst vormachen, oder sie haben ihr Sacrificium intellectus gebracht und erfreuen sich einer Unempfindlichkeit gegen Irritationen, von der selbst die frömmsten Anhänger echter Religionen nur träumen können. Sie werden darauf vorbereitet, daß „unterdrückerische Personen“ ihre Kirche bedrohen. Im „Gelöbnis an die Menschheit“ warnen führende Scientologen die Anhänger vor „allen erdenklichen Angriffen unterdrückerischer Mächte“. Heftiger Widerstand von außen ist dann nur ein Zeichen dafür, daß man an einer verborgenen Wahrheit partizipiert, die bei Nichterleuchteten Anstoß erregt. Und der Widerstand ist um so willkommener, je zweifelhafter die Wahrheit sich ohne ihn ausnimmt.

Man kennt das aus der Geschichte der christlichen Sekten. Aber ist Scientology denn eine Sekte, wie es immer wieder in disqualifizierender Absicht heißt? Man behauptet ja gar nicht, wie es die Sekten tun, daß man den Kern irgendeiner kirchlichen Lehre aus den Fängen einer erstarrten Institution retten und den Gläubigen die Unmittelbarkeit zur Wahrheit zurückerstatten wolle. Statt dessen wurde hier eine Hierarchie des Heils errichtet, die komplizierter ist als in den echten Kirchen.

Oder anders gefragt, wenn dies eine Sekte wäre, was wäre dann Kirche? Womöglich die bestehenden Verhältnisse in ihrer kalifornischen Form, wo sich kruder Materialismus und Esoterik zu einem mystischen Kapitalismus bizarr ineinander verschlingen?

Ach ja, die Sache mit dem Sinn des Lebens hätten wir jetzt fast vergessen. Die Lösung lautet: „unendliches Überleben“.