Todesjux

oder: Die fröhlichen Zuschauer aus Göttingen  ■ Von Jürgen Fuchs

Als mich der „Barbier von Bebra“ in der Waschküche des PDS-Erholungsheims „Zum unschuldigen Notar“ von hinten ansprang, um mich in den Schwitzkasten zu nehmen und zu einem Faß zu zerren, wo ich mit drei schnellen, geschickten Schnitten barbiert, von meinen Schuhen befreit und ersäuft werden sollte, hatte er nicht damit gerechnet, daß ich im Rahmen meiner militärischen Grundausbildung bei der „Nationalen Volksarmee“ durchaus geübt war, solche hinterhältigen Angriffe mit einer einzigen Hand- und Fußbewegung abzuwehren.

Der verhinderte Mörder brüllte sofort um Hilfe, und schon öffneten sich verschiedene vorher durchaus sichtbare Türen. Recht bekannte heroische Gestalten eilten herbei: Hermann Gremliza grinste breit und stellte sich sehr ernst als „Karl Graus“ vor, Karl-Eduard von Schnitzler legte süffisant und selbstironisch Wert auf „Sudelede“, der ehemalige polnische Regierungssprecher Urban trug seine Kriegsrechtsuniform und behauptete, ein Witzbold zu sein. Der „Barbier von Bebra“ atmete auf, sein Bibbern ließ durchaus nach und mit operativ-verstellter Stimme verkündete er im Ton überlegener westlich-brachialer Humorigkeit, ein cooler Göttinger Grenzlandton umspülte die angebliche Assistentenzunge der germanistischen Fakultät, etwas Greiz und etwas Dresden war da untergemischt: „Jetzt biste dran.“

Die drei herbeigeeilten Führungsvatis, die eigentlich in der kommunistischen Plattform-Deckung hatten bleiben wollen, nickten jetzt total locker und ihr Kienberg- bzw. Mielke-Lächeln erfüllte den nunmehr ganz und gar öffentlichen Raum einer beabsichtigten Tat: taz, Konkret, jW, ND und die ganze postkommunistische Parteipresse des ehemaligen Lagers waren zugegen. Mit der bekannten sägenden Hintergrundarie, die vormals Millionen tapfere Montagsfilm-Fernsehzuschauer zu einem überaus behenden Knopfdrucksprung veranlaßt hatte, ließ der „Schwarze Kanal“ den westlichen milliardenschweren Pleitegeier müde auf eine östliche Antenne hüpfen zum sechsundneunzigtausendsten Male: Jetzt sollte ein Ereignis, wahrscheinlich live, in alle Welt hinaus übertragen werden, denn wir-sind-wieder-wer! Die Zeit der schuldbewußt-zurückhaltenden Zimperlichkeiten liegt hinter uns, Genossen! Zickezacke, zickezacke... Hurrahurrahurra! „Wir haben dir's schon immer gesagt“, wiederholte der qua Stützmasse ermutigte mögliche Mörder in zunehmend kessem Ton, „einmal biste dran.“

„Vielleicht“, sagte ich zu Sascha Anderson, der immerhin einen beherzten Sprung von hinten gewagt hatte, und zog einen kleinen grauen Ausweis aus dem Dissidentenwams hervor, klappte ihn kurz auf und verließ unbehelligt das holde Gespenstergemach. Alle anwesenden Genossen, die hauptamtlichen wie die inoffiziellen Kontaktpersonen, vollführten starr und stumm ihre Grußerweisung, die politisch-pawlowschen Reflexe funktionierten prächtig. Einzig Gremliza, der hanseatisch bourgeoise Kleinunternehmer mit den großen Plänen, wußte nicht, ob er die rechte oder die linke Hand gegen die breite Vordenkerstirn halten sollte. Im Hinausgehen übergab mir ein Herr in grauem Hausmeisterkittel, darunter schimmerte ein weißer Sommeranzug, „aus Sicherheitsgründen“, wie er betont sachlich sagte, den gesuchten Papierpacken. Ich nickte kurz und militärisch, meine Hände hatte ich mir vorher in dem bereitstehenden Ertränkungskessel rasch und unschuldig gewaschen, und verließ das verwunschene Feriengelände der überaus neuen und sympathischen Volkspartei mit dem konspirativ-irreführenden Namen.

Die IM-„Notar“-Akte hatte der böse Fuchs nun in seinen dreckigen Pfoten, die Verpflichtungserklärung des unschuldigen Reformpolitikers mit der beweglichen Zunge dazu! Der bescheidene Hausmeister und Hüter der Geheimnisse, Oberst Reuter, hatte sie mir überlassen, von Genosse zu Genosse, im Hinausschreiten, als leises vertrauensvolles Du und Salut zur Grußerweisung... „Günter“, sagte ich lachend am Telefon zu Günter Ullmann, dem Dichter aus Greiz, „die postmodernen Bubis mit ihrem weststalinistischen Spannerhumor wollen uns braten und stehen stramm vor einem kleinen grauen Stasiausweis, innen leer, einem Muster aus der Gauck- Behörde, den ich rein zufällig in der Tasche hatte!“ Wir lachten noch lange am Telefon, entgangen dem vorletzten Komplott. Und nun hatte ich nur noch ein Problem: Nicht die IM-Akte, für die wird sich schon ein Nachrichtenmagazin finden. Auch diese Glosse bekomme ich irgendwo unter. Etwas anderes: Die Barbiere wünschen uns also den Tod.

Fuchs stutzte. Von hinten sprang ihn der Bote an, nahm ihn in den Schwitzkasten und zerrte ihn zum Faß, wo er ihn mit drei schnellen, geschickten Schnitten barbierte und ihm die Schuhe auszog. Dann versenkte er den Poeten in zehn Hektolitern Sulfrin-Shampoo, die das Faß bis oben hin füllten. Erst am nächsten Morgen drang eine Reinemachefrau in die Waschküche vor, erspähte die nikotingelben, über den Faßrand ragenden Lyrikerfüße und schlug Alarm... In der Zentrale der Berliner Mordkommission war dicke Luft ... Irgend so'n Dichter. Rasiert, onduliert und in Shampoo ertränkt... Sie suchen doch diesen Bartmörder... Er hat wieder zugeschlagen. Wir haben einen Ostdeutschen geborgen. Bart ab und Beton an den Füßen. Laut Ausweis ein gewisser Rainer Eppelmann... Die Kollegen feiern schon den Fang. Ein Pilzsucher hat das Opfer heute morgen um fünf Uhr entdeckt. Sie wissen ja, der frühe Vogel fängt den Wurm! Es guckte nur die Glatze raus, und der Mann hat gedacht, er hätte einen besonders seltenen Pilz gefunden, laut Protokoll einen Moment, Hygrophoropsis olida, zu deutsch Duftender Afterleistling, oder einen Cortinarius varius, also einen Semmelbraunen Schleimkopf, und der Pilzheini hat versucht, das Ding mit einem Stöckchen aus dem See zu ziehen, aber das ging natürlich nicht... (aus „Der Barbier von Bebra“ von Wiglaf Droste und Gerhard Henschel, Edition Nautilus 1996, August 96).

Du willst also mitblödeln, den Todesjux mitmachen, glossieren, parodieren, Humor zeigen willst du, Lockerheit. Sie haben gut getroffen, sie haben in die Eier und ins Gemüt gehauen. Die Stasi plante Liquidierungen, Vernehmer im Knast höhnten wie Droste und Henschel. „Zersetzungspläne“ wurden fabriziert und durchgeführt. Verarschen und Lächerlichmachen stand ganz oben an, die „Helden“ vorführen in ihrer ganzen Jämmerlichkeit und Angst... Schriftstellerfreunde rieten mir, nicht zu reagieren. Warum soll ich nicht reagieren?

Droste, Henschel, auch Gremliza von Konkret und Anderson vom MfS haben eigentlich immer ganz gut getroffen und „sensible Zonen“ erkannt. Ich lernte Kasernenhof, Knast, Stasimaßnahmen im Westen und letztes Jahr auch die Krebsstation des Virchow- Krankenhauses kennen. Alle Haare verlor ich für einige Monate, der Barbier mußte gar nicht kommen. Paar Gramm eines Chemotherapeutikums wirken Wunder. Die Patientinnen und Patienten im Aufenthaltsraum rissen mitunter laute, kahlköpfige Witze. Schonungslos und befreiend war dieser Humor. Wir wollten leben und nicht sterben. Chaplin, Mr. Bean und Tati sah ich gern im großen Fernsehapparat an der Wand überm Krankenbett mit den vielen Apparaturen. Sie gingen weit und dicht ran, verhöhnten auch und äfften nach. Aber nie von außen, sie selbst waren die Angeschissenen mit, die Blödmänner, die Patienten, die dümmsten Rekruten und Möchtegerngeister auf dieser Welt. Da sieht man zu und weiß schon um die eigene Tragikomödie. Ob nun jeweils behaart auf Kopf, Kinn und Zunge oder nicht. Droste und Henschel sind Zuschauer, sie bleiben draußen, betrachten den Zirkus des Lebens und jeweilige Bestiarien durch die Glasscheibe, zeigen mit den Fingern, stoßen sich an und müssen ganz doll lachen über die oder den... Da sie etliche Zeitungen und Bücher gelesen und an der Uni studiert haben, wollen sie mitreden und gehört werden. Dann kommt dieser auftrumpfende, hämische Ton im jeweils vorgegebenen politisch-ideologischen Rahmen, der den „Stilbruch“ sucht und sich freut, wenn jemand getroffen ist. Es ist die papierne Rebellion der Wohlstandskinder, die natürlich alle überaus kritische Artikel gegen Lehrerschaft und Kohl-Regierung in der Schülerzeitung veröffentlichten. Na ja, liebe Freunde, kommt ruhig mal rein in den Aufenthaltsraum, geht mal „auf Station“, seid mal „Zugang“ oder „auf Transport“. Aber in echt, nicht bloß Klassenfahrt mit kurzer Besichtigung und dann wieder Mami und Papi oder Urlaub in Ibiza. Überall gibt's was zu lachen. Vielleicht ist es lachhaft, daß ich das hier aufschreibe und das Hemd aufmache vor euch hungrigen Wauwaus.

Rainer Eppelmann als Minister und Günter Ullmann als Empfänger der Ehrenmedaille der Stadt Greiz in Silber, klar, das ist zum Schreien! Dem Freund und Dichter Ullmann verpassen sie einen Orden in Silber! Jeder Hungerstreik hat komische Seiten, jedes Totenbett hat skurrile Falten und seltsam-banale Details umschwirren Liebe, Leid und Sterben. In Kapstadt/Südafrika hörte ich neulich einen Autor auf einem Podium ironisch bemerken: „Wahrheitskommission ist Kitsch, eine Kerze brennt, und Tränen fließen“ ...Da war es plötzlich ganz still im Saal. Einer berichtete dann, daß zum Beispiel Mütter kommen, vom Lande, aus den Townships, und etwas wissen wollen über ihre verschwundenen oder ermordeten Söhne, die in der Stadt studiert hatten und an Anti-Apartheid-Aktionen beteiligt waren. Sie weinen, sagte er, und klagen, wollen wissen, wer verantwortlich ist... Wer das kitschig findet, wenn solche Frauen weinen, sagte er mir nach der Veranstaltung, ist vielleicht nichts anderes als ein Dreckschwein.