Fäden des Rückens

■ Jochen Flinzers Stickereien in Wedel

Wer zieht hinter allem die Fäden? Hat das, was wir an der Oberfläche sehen, einen untergründigen Zusammenhang? Willkürlich sortieren Kreuzworträtsel die Begriffe und mit Lottosystemen und Sexanzeigen soll das Glück erzwungen werden. Diese alltäglichen kleinen Sinnbausteine haben gemein, das Jochen Flinzer sie mit Nadel und Faden bearbeitet: der Hamburger Künstler stickt seine Bilder über triviale Vorlagen.

Letzten Samstag erhielt der 37jährige dafür den mit 20.000 Mark dotierten Ernst-Barlach-Preis des gleichnamigen Museums in Wedel. Die Laudatio hielt Jean Christophe Ammann vom Museum für moderne Kunst in Frankfurt, das Flinzers Arbeiten seit langem sammelt und nun einen neuen Katalog herausgebracht hat.

Der Künstler, einst Schüler des Konstruktivisten Almir Mavignier an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, hat ein Herz für die Banalität des Alltags. Doch vor allzu idyllische Assoziationen setzte Jean-Christophe Ammann bei seiner Laudatio den Vergleich mit Tätowierungen. Denn im Sticken verletzt die Nadel Stich für Stich das Trägermaterial und erzeugt erst in dieser Perforation ein Bild auf Dauer. Das ist besonders bei den sexuellen Themen mehr als nur formale Vorgehensweise.

Auf Ferienpostkarten dringt der individuelle Text von der Schreibseite aneignend auf die allgemeine Bildseite und der mächtige Fujijama wird zur Folie für die japanisch gestickte Adresse einer kleinen Bar. Das ist nicht nur Stilmittel; der Künstler hat zwei Jahre in Japan gelebt, reist viel und weiß um die Schwierigkeiten der Aneignung.

Flinzers Arbeiten sind immer beidseitig zu betrachten: eine Seite figürlich oder lesbar, die andere abstraktes Linien- und Formenbild. Kann der Sammler die beidseitig verglasten Bilder noch täglich umdrehen, wird im Museum die Vorstellung der jeweils anderen Seite wichtiger. Eine mehrfach verwendete Lösung dieses Präsentationsproblems ist der freistehende Paravent, wie hier die aufgespannten, überstickten Rätselseiten oder zuletzt die mehrsprachig benähten Donald-Duck-Comics in der Kunstvereins-Ausstellung wunderbar.

Besonderen Reiz entfalten in der Wedeler Ausstellung die „Sieben Siebe“, zart gelb durchwobene, weiße Kunststoff-Küchensiebe, die unter der Kuppel des runden Treppenaufgangs weniger auf der neuen Bedeutung ihrer hinzugefügten Wörter beharren, als vielmehr das Licht einfangen. Hajo Schiff

Ernst Barlach Museum, Mühlenstr. 1, Wedel, di-so 10-12 + 15-18 Uhr, bis 29. September