Die Heilung malen

■ Modellversuch seit 1989 im St. Jürgen-Krankenhaus: Mittels Kunsttherapie sollen PatientInnen schneller gesund werden

Innerhalb von Tagen war für Ursula Sawitza eine Welt zusammengebrochen. Erst erkrankte der Ehemann an Krebs, mußte eiligst operiert werden. Kaum war der Schock verdaut, da entdeckte sie bei sich selbst Knoten in der Brust. Verdacht Brustkrebs. Das bedeutete auch für sie einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus. Eine Woche war seit der Operation vergangen, geschwächt lag Ursula Sawitza im Krankenbett und wußte nicht ein noch aus. Und in dieser Situation sollte sie etwas tun, was ihr schon immer schwer gefallen war: ein Bild malen.

Eine schlichte Überforderung könnte man meinen. Doch Gabriela König, Kunsttherapeutin im St. Jürgen Krankenhaus ist anderer Meinung: „Malen, Plastizieren oder auch eine Grafik, das ist in dieser Situation für viele Patienten hilfreich.“ Künstlerische Betätigung sei lange unterschätzt worden, in Ergänzung zur klassischen Medizin ließe sich so ein Krankheitsverlauf positiv beeinflussen und die Heilung beschleunigen. Eine Erkenntnis, die sich langsam auch im allgemeinen Krankenhausbetrieb durchsetzt. Dem Vorstoß des St. Jürgen Krankenhauses kommt dabei Modellcharakter zu, hier wurden mittlerweile zwei feste Stellen für Kunsttherapeutinnen geschaffen.

„Man muß sich in den Patienten hineinversetzen“, erläutert Gabriela König. „Seine Situation ist beängstigend. Die Umgebung des Krankenhauses ist irritierend, der Ausgang der Krankheit ungewiß. Wenn wir ihm jetzt mit Gesprächen helfen wollen, dann besteht die Gefahr, daß nur noch die Probleme im Zentrum stehen.“ Stattdessen empfiehlt sie einen anderen Weg: ein Gleichgewicht zwischen Wort und Bild. „Mit frischer Farbe jedoch ein Bild zu malen, das weckt die schöpferischen Kräfte.“ Quellen der Freude würden entdeckt, die für die Heilung äußerst hilfreich seien. Dazu brauchte es nur eines: die Mauern aus Vorurteil und Angst niederzureißen. „Kaum einer kann sich der Magie von bunter Farbe entziehen. Ist erst mal der erste Pinselstrich gemacht, dann sind die meisten in den Bann gezogen.“ Daß es bei der Kunsttherapie nicht darum geht, wie im Schulunterricht ein möglichst schönes Bild zu malen, versteht sich von selbst. Jenseits jeglichen Leistungsanspruchs zeigen sich die unterschiedlichsten gangbaren Wege. Die Therapeutinnen aus dem St. Jürgen Krankenhaus sind sie gegangen. Gabriela König, die viel mit den Patientinnen aus der Frauenklinik arbeitet, schwört auf eine „Naß in Naß“-Technik, bei der Aquarellfarben gleich auf feuchtem Papier verlaufen. „Hier lockt die Farbe.“ Auch Patientinnen, die durch eine Chemotherapie geschwächt sind, können mit geringen Bewegungsmöglichkeiten noch malen. Kollegin Angelika Schade arbeitet mit anderen PatientInnen: „Wer in der Lage ist, an einer Staffelei zu arbeiten, der wird die großen ausholenden Bewegungen als äußerst befreiend empfinden.“ Und erst recht die Plastizität dickflüssiger Farbe.“

Harmlose Bemühungen, die einer Beschäftigungstherapie ähneln, mögen hier Kritiker äußern. Doch die Erfolge ihrer Arbeit sprechen eine andere Sprache, fördern Verblüffendes zutage: „Wenn wir sprechen, sagen wir nur das, was wir eh schon wissen“, beschreibt Angelika Schade die Arbeit. „Wenn wir malen, dann kommen Äußerungen aus unserem Innern zutage, die uns verblüffen.“

Überrascht war auch Ursula Sawitza, die die Kunsttherapie während der ganzen leidvollen Krankheitsphase als große Hilfe empfand. Alle wichtigen emotionalen Stationen waren mit dem Malen und der Kunsttherapie verbunden. „Ich konnte erst hier Entspannung finden und nach dem Schrecken und der Operation zum ersten Mal richtig heulen. Das hat sehr geholfen.“ Aber auch kämpferische Kräfte konnten wiedergefunden werden. Ursula Sawitza, die sich von ihrem Frauenarzt sehr schlecht behandelt fühlte, traute sich lange nicht ihm das auch zu sagen; zu eingeübt waren die Verdrängungsmechanismen. „Erst als ich bei der Kur wieder den Pinsel in die Hand nahm, kam das entsprechende Gefühl. Ich bin sofort zum Telefon gestürzt und habe mir die Sache endlich von der Seele geredet. Da habe ich jahrelang als Personalrätin für alle gekämpft, nur nie für mich.“ Ihr Mann, der mittlerweile ohne die hilfreiche Kunsttherapie genesen ist und den Beruf aufgeben mußte, weiß wieviel Hilfe seine Frau aus dem Malen gezogen hat. Aber am deutlichsten wurde der Krebspatientin an ihrem wichtigsten Bild, wie schlecht sie mit sich selbst umging. Eine schöne farbige Blume hatte sie gemalt, die dick und satt auf der Wiese stand. Die harmlose Frage der Therapeutin, die meist den Malprozeß begleitet, brachte das Problem auf den Punkt: „Soll denn die Blume nun alleine stehen bleiben?“

Die Patientin, die sich seit der Kindheit nie getraut hat, etwas für sich selbst zu fordern, konnte es nicht fassen. Soviel Raum, das ganze riesige Blatt sollte sie sich selbst gönnen? Das war es also, den Mut für sich einzustehen, den konnte sie sich selbst malen. Eine einzelne farbige Blume auf einem weißen Blatt, mehr nicht. Heute, wo die Krankheit überstanden, die Familie mehrmals umgezogen ist, wird neben Büchern und Hausrat eines immer mitgenommen: das Bild mit einer Blume.

Susanne Raubold