Lidokino
: Zeigt her eure Bäuche!

■ Wirkungen und Nebenwirkungen des italienischen Kinos und der neue Film von Jacques Doillon in Venedig

Steht ein italienischer Film auf dem Abendprogramm, bleiben alle italienischen Kollegen auf dem Lido, und alle Ausländer fahren aufs „Festland“. Auch ich hatte zu mir gesagt: Nie wieder gehst du in einen italienischen Film. Nur so war überhaupt möglich gewesen, was dann geschah.

Mit mehreren anderen Herrschaften, einer davon mit einer Minikamera (die Ereignisse sind also festgehalten), waren wir abends durch Venedig geschlichen: Sie wissen schon, Marcusplatz, Seufzer hier, Rialto dort, und waren in eine italienische Boutique gegangen. Was ich sonst auch nie tue, denn bekanntermaßen sind schon die Größen, die dort überhaupt angeboten werden, eine permanente Kränkung.

Aber man hatte mich gedrängt, nachdem ich ein kleines unvorsichtiges Wort des Gefallens zu einem gewissen Leopardenhemd und einer gewissen Darunter-Hose geäußert hatte (was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Leopardenhemden ...), meine Skrupel, ja Ängste! – zu überwinden und hineinzugehen. Und das in Turnschuhen! Der pomadige Löwe, der den Verkäufer machte, kam auch gleich angerollt, und eine Dame in meiner Begleitung, die der Landesprache mächtig ist (und außerdem zart und schlank), begehrte zu wissen, ob man denn auch Dinge in meiner Größe habe. „Per la signora????“, fragte der Bursche, und starrte mich mit seinen beiden Augen an, als hätte sie gefragt: Haben Sie auch was für Riesenkänguruhs? „No.“ Sollen sie doch untergehen mit ihren albernen Türmchen und Schiffchen!

So kommt es auch, daß man den Blick sehnsüchtig nach Amerika wendet, gerade die Mühseligen und mit 69 Kilo Beladenen unter uns, denn ihrer ist das Himmelreich und für sie sind solche Filme gemacht wie „Box of Moonlight“ von Tom de Cillo, „Swingers“ von Doug Liman und vor allem „Grace of My Heart“ von Allison Anders. Während in „Box of Moonlight“ die Angestelltenwelt in Form von John Turturro eine Art „Downsizing“ erlebt durch die Begegnung mit der Wildnis einerseits und einem Davy- Crockett-Charakter mit entsprechender Fellmütze andererseits, betreten in „Swingers“ einige Burschen aus New York Hollywood sozusagen durch die Hintertür, und es sieht ein bißchen so aus, als würde es dabei bleiben. Außerdem geht es um alte Menschheitsfragen: Wie viele Tage nach einem Erstkontakt ruft man ein Mädchen an? Ist es noch okay, einen Manhattan zu trinken? Kann man noch ins Spillanes gehen, wenn Leute wie Eddie es kennen? Und so weiter. Allison Anders („Gas Food Lodging“) hat sich mit Unterstützung von Martin Scorsese, dem New Yorker und dem Billboard Magazine daran gemacht, zu erzählen, was aus einer Biographie wird, die als „Singer/Songwriter“ gedacht war und aber im Prinzip nicht über das Komponieren hinauskommt.

Illeana Douglas (und jetzt sag' ich's: eine Frau, die man sich merken sollte) betritt als Edna Buxton in den späten fünfziger Jahren über einen dieser Talentwettbewerbe (mit Mutter in der Königsloge) die Musikszene von der Easy-Listening-Seite aus. Nur war es bekanntermaßen nicht easy, zumal dort Girls out waren und man Dinge für Herrenkombos schreiben sollte. Sie ist Industriellentochter aus Philadelphia, was ihr Manager Joel Millner (John Turturro mit abstrusem Kinnbart) in eine proletarische Herkunft umdichtet. Douglas ist eine würdige Nachfolgerin von Katherine Hepburn oder Carole Lombard: schnell, rasend gewitzt und nur tendenziell ein wenig melancholisch. Die Musik entwickelt sich von Easy Listening über laut zu singende (und im Radio verbotene) Schlager von schwarzen Teenager-Schwangerschaften in Richtung Beat und schließlich in Richtung Joni Mitchell/Psychodrama.

Im Wettbewerb dagegen Jacques Doillon mit „Ponette“, dem Porträt einer vierjährigen, die den Verlust ihrer Mutter zu verschmerzen hat. Mit knappen Worten schickt Vater sie aufs Land zu einer netten Tante mit zwei Kindern, von denen sie sich zunächst immer Abstand schafft, um auf Mutter zu warten. Sehr erwachsen werden Probleme der Transzendenz erörtert. Dicke Kindertränen kullern über die immer gleichen Großaufnahmen, eine Art Mini-Jeanne-d'Arc. Man macht sich ein bißchen Sorgen um das Mädchen, aber schließlich war eine Analytikerin auf dem Set, die auch gerne der Presse Auskunft gibt. „Ponette hat sehr viele Dinge mit mir durchgearbeitet, die gar nichts mit dem Film zu tun hatten.“ Um die Filmtränen zu produzieren, habe sie sich immer nur vorgestellt, wie der Jacques ganz böse mit ihr ist. Man hat ein flaues Gefühl bei der Sache. Aber wahrscheinlich ist so eine Vierjährige robuster als man annimmt. Die Hauptdarstellerin jedenfalls poussierte draußen mit den Fotografen und zeigte begeistert ihren kleinen Bauch. Mariam Niroumand