Ganz in der Sehnsucht verschwunden

Die Augen, der Blick und weiter: Heute vor 100 Jahren wurde der Schauspieler, Theoretiker und Schizo-Patient Antonin Artaud in Marseille geboren. Was ist aus seinem kacka-körperverschleißenden „Theater der Grausamkeit“ geworden?  ■ Von Petra Kohse

Es geht um erste und um letzte Dinge. Umstandslos führen Gespräche über den französischen Dichter und Theatertheoretiker Antonin Artaud zu Begriffen wie Körper und Energie, Schmerz und Rebellion, Wahnsinn und Vision. Zum Heilsritter implodierender Ichs eignet sich Artaud trotzdem nicht, auch wenn Ende der achtziger Jahre, in der Hochzeit der Innerlichkeitsperiode, ein Artaud- Porträt von Man Ray aus dem Jahr 1926 in dieser Mission als Postkarte kursierte. Leidvoll, kalt und mißtrauisch blickt er einen da unter hoher Stirn und noch höherer Haartolle über die linke Schulter hinweg an, ein Märtyrer des Selbstzweifels – der jedoch nicht nach Selbstfindung strebte, sondern nach Selbstentäußerung.

Antonin Artaud: Ein Schauspieler und Dichter, der die Sprache haßte, ein Theoretiker ohne Methode, ein Schwärmer voller Haß, ein Gottsucher und Exzentriker, ein Drogensüchtiger von Jugend an, ein Reisender und Mystiker, ein Prediger von Raserei und Tugend. „Ich hätte Blut durch den Nabel scheißen müssen, um zu erreichen, was ich will“, schrieb er 1947. Damals war er 51 Jahre alt und die Elektroschocks in den vorangegangenen neun Jahren in Nervenheilanstalten hatten aus dem düsteren Schönen ein körperliches Wrack gemacht.

Als Sohn einer Reederfamilie wurde Artaud vor 100 Jahren in Marseille geboren. Als fünfjähriger erkrankte er an Hirnhautentzündung und litt in der Folge an Schmerzzuständen und Bewußtseinsstörungen, die ihm ein Leben ohne Opiate und psychiatrische Betreuung unmöglich machten. 1920 zog er nach Paris, schrieb Gedichte und kam zum Theater. Als er mit Georges Pitoäff an der Comédie des Champs-Élysées arbeitete, notierte ein Kollege, Jean Hort: „Sobald Artaud sich zu bewegen hatte, spannten sich seine Muskeln an, aus seinen Augen schoß Feuer: So trat er vor und spielte mit Händen, Armen und Beinen. Im Zickzack sah man ihn gehen, seine Glieder griffen im Raum aus, zeichneten wildgewordene Arabesken hinein.“

Ähnlich furchterregend soll er auch privat durch die Pariser Straßen geschossen sein, beständig um sich blickend, einen Stock schwingend und häufig die Straßenseite wechselnd, aus Angst vor Angriffen. Angriffe? Artaud fürchtete sich vor einem undefinierbaren Etwas, das ihm seine Gedanken, seine Seele rauben könnte, wobei die Grenzen zwischen Geist und Materie in seiner Vorstellung zunehmend verschwammen. Kleinste Irritationen konnten nervöse Krisen auslösen, die er gleichzeitig mit großer Klarheit beschrieb und analysierte.

Die Verzweiflung ließ ihn zu einem flammenden Kritiker des abendländisch rationalen Kulturbetriebs werden. Er schloß sich den Surrealisten an, trennte sich wieder von ihnen, da er deren Affinität zum Kommunismus verachtete, gründete ohne großen Erfolg das ThéÛtre Alfred Jarry, beschäftigte sich mit fernöstlichem Theater, ursprünglichen Kulturen und der europäischen Mystik, reiste 1936 nach Mexiko, um den Peyotl- Kult zu studieren und verfiel 1937 in Irland religiösem Wahn. Als er wieder nach Frankreich zurückkehrte, wurde er interniert. Keine zwei Jahre nach seiner Entlassung starb er 1948 an Darmkrebs.

1932 veröffentlichte Artaud sein Manifest „Das Theater der Grausamkeit“. Hier findet sich gleich in den ersten Zeilen der Satz: „Dem Theater (wird) erst dann sein spezifisches Wirkungsvermögen zurückgegeben, wenn man ihm seine spezifische Sprache zurückgibt.“ Seine spezifische Sprache. Bei Artaud und im Gegensatz zum französischen Theater Anfang der dreißiger Jahre hieß das: Weg von der Literaturvermittlung, hin zu einer Komposition aus Klang, Geräuschen, Stimme, Gebärden, Mimik, Tanz, mit dem Ziel, dem Zuschauer nichts zu erzählen, sondern ihn, durch die Fremdheit des Dargebotenen, auf sich selbst zurückzuwerfen:

„Das Theater wird erst dann wieder es selbst werden, das heißt, ein echtes Illusionsmittel darstellen können, wenn es dem Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert, in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, seine Wildheit, seine Chimären, sein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene Luft machen.“

Artaud wollte vom Theater, was ihm das Leben nicht geben konnte: Es sollte im körperlichen Ausdruck das Geistige visualisieren, mithin wieder eine Einheit dessen herstellen, was ihm im Schmerz so grausam auseinanderfiel. Es sollte eine Rückverbindung schaffen zu archetypischen Wurzeln der Menschheit, es sollte Purgatorium sein und Erlösung.

Diese in etlichen Aufsätzen weiterausgeführte und dennoch Fragment bleibende Theorie eines Theaters der Grausamkeit („Das Wort Grausamkeit muß in einem weiten Sinn verstanden werden, nicht in dem stofflichen, räuberischen Sinn, der ihm gewöhnlich beigelegt wird.“) ist einerseits eine private Obsession. Andererseits ist sie die radikalste theaterreformerische Forderung dieses Jahrhunderts, erhebt sie doch die permanente Verstörung zum Stilprinzip und postuliert die Autonomie der Bühne als magische Alternative zur Wirklichkeit. Es wundert kaum, daß Artaud diesen Entwurf – anders als etwa Brecht den seinen – nie verwirklichen konnte.

Um so besser konnte sich in der Folge jeder von Artaud inspirieren lassen, der sich vom staatstragenden Theater seiner Zeit abwenden, Körperarbeit ins Zentrum seiner Arbeit stellen oder mit Schockwirkungen experimentieren wollte. Ob Living Theatre, Peter Brook, Happenings und Performances bis hin zum Aktionstheater der achtziger Jahre – die Artaudsche „Grausamkeit“ wurde zum Schlüsselbegriff für die Intensität jeglichen emotionalen Erlebens, das den Zuschauer gewandelt entließ. Mal mehr, mal weniger auf ihre Herkunft verweisend, irrlichterten Elemente dieser Programmatik über die Bühnen und verschwanden wieder hinter dem Willen zur öffentlichen Selbsterkundung.

In den neunziger Jahren ist von Artaud nun eher wenig die Rede. Gleichzeitig hat sich ein Kanon ehemaliger „Schockelemente“ auf den Staatsbühnen fest etabliert: Ficken, Publikumsbeschimpfung, Blut und Fäkalien, Grunzen und Stammeln statt Sprache, Verweigerung – Literaturtheater ade und vor lauter Körper im Theater kein Entkommen. Das hat im jeweiligen Kontext natürlich durchaus seine Richtigkeit, mit Artaud aber nicht viel zu tun. Denn ein Theater der Grausamkeit läßt sich nicht mit gewandelten Werten einholen, sondern bestenfalls mit dem Wert des Wandels.

Für den aber sieht es postmodern schlecht aus. Welcher Wandel der Mittel sollte uns zwischen Klassikerklitterung, Konzeptchören und Kanzlerpuppenmassaker denn noch „grausam“ erhellend berühren? Die Zeichen sind enthemmt und lassen mit sich machen, was man will, doch daß sie sich wieder in eine magische, weil befremdliche (Un-)Ordnung bringen lassen könnten, ist schwer vorstellbar. Hat sich, anders gefragt, das Prinzip Artaud, also die Suche nach einer spezifischen, bewußtseinsverändernden Sprache des Theaters schlicht erledigt? Und hieße das dann nicht, daß sich die Sache mit dem Theater überhaupt erledigt hat? Oder die mit Artaud?

Vielleicht muß man das Thema weiter fassen. Die Berliner Theaterwissenschaftlerin Sabine Leucht etwa, die über Artaud promoviert, sieht im Diskurs über das Verschwinden des Körpers und die Sehnsucht nach dessen Wiederkehr deutliche Bezüge zu den Schriften Artauds. Und Vicky Schmatolla, Mitglied des zwischen 1986 und 1991 bestehenden Theaters Antonin Artaud in Berlin sagt: „Das einzige, das mich in letzter Zeit ähnlich berührt hat wie das, was wir damals gemacht haben, war der Film ,Natural Born Killers‘.“ In ihrem Berliner Club WTF will die Musikerin jetzt damit experimentieren, verschiedene Kunstgenres kommunizieren zu lassen, etwa Techno oder Drum & Bass, Neue Musik und Literatur. Die theatralische Irritation im Partykontext – ein analoger Versuch im Dienste einer zweiten Wirklichkeit?

Ralf Räuker wiederum, der Regisseur einer Hommage an Artaud, die heute im Berliner Tacheles Premiere hat, beschreibt seine zehnjährige Beschäftigung mit Artaud als „eine Art Vampirismus“. Nicht die einzelne Forderung Artauds an das Theater zählt für ihn, sondern etwas von seiner antikonventionellen Kraft aufzunehmen. Artaud als Schutzschild gegen die Versuchungen des Apparats, als Memento mori im Zeitalter der Designerkunst: „Jeden Tag kann einem der Himmel auf den Kopf fallen“, sagt Räuker in Abwandlung eines Artaud-Zitats. Und fügt hinzu: „Eigentlich müßte es nicht Artaud bedürfen, um daran erinnert zu werden.“

Zum 100. Geburtstag ist eine neue Ausgabe von „Das Theater und sein Double“ erschienen. Aus dem Französischen von Gerd Henniger, ergänzt und mit einem Nachwort versehen von Bernd Mattheus. Matthes & Seitz Verlag, 232 Seiten, 48 Mark