Ein Leben zwischen den Zeilen

Der Schriftsteller, sagte er, sei ein „ekelhafter Kerl“, ein „Techniker“ seiner eigenen Geistesmechanik. Zum 100sten Geburtstag des österreichischen Schriftstellers Heimito von Doderer  ■ Von Kai Luehrs

Der knapp 70jährige Heimito von Doderer wurde einst gefragt, ob er sich nicht an einer „Erotik“- Anthologie beteiligen möge. Der so freundlich Aufgeforderte erkannte die Berechtigung der Frage wohl. Homosexualität, Sadismus, Voyeurismus, besonders auch die in den „Dämonen“ bedeutsame sexuelle Attraktivität „dicker Damen“ gehörten schon seit langem zu den Motiven, mit denen dieser Autor umzugehen verstand.

Aber: In seinen Romanen und Erzählungen präsentierte sich dies alles zumeist nur als ein Element perspektivreich komponierter Bildungsgeschichten und Gesellschaftsmosaiken. In ihnen den Ausdruck eines verkappt erotischen Schriftstellers mit Bekennermut erblicken zu wollen, ging eigentlich nicht an. Robert Neumann bekam daher im Jahre 1965 seine Absage: „Ich kann aus einer ganz klaren Raison an Ihrem Unternehmen mich nicht beteiligen, denn für mich ist die Romanschreiberei heute nichts anderes als ein langer Hebel, mit welchem ich mich bemühe, das Direkt-Autobiographische aus den Angeln zu heben.“

Der Mann, der schon bald nach dieser Äußerung vor inzwischen 30 Jahren gestorben ist, hatte vielleicht auch biographische Gründe, das „Direkt-Autobiographische“ zu vermeiden, sich hinter seinen Texten verbergen zu wollen. Der Wunsch des Rückzugs seiner eigenen Person hinter den Roman trägt nicht nur Züge von Diskretion, sondern anscheinend zugleich – von Scham.

Das muß nicht unbedingt verwundern. Was nämlich dieser Haltung voranging, war ein Leben gewesen, das sich über lange Zeit im Widerspruch zwischen literarischer Produktivität und öffentlicher Nichtanerkennung bewegt hatte. Es war ein Leben unter dem nachhaltigen Eindruck zweier Kriege und des Nationalsozialismus gewesen. In diesen hatte sich Doderer bereits früh ideologisch verstricken lassen. Antisemitismus und die (vor dem „Anschluß“ Österreichs für ihn illegale) Mitgliedschaft in der NSDAP sollten nicht nur Doderers Leben nach dem Kriege, sondern auch die weitere Wirkung seines literarischen Werkes nachhaltig belasten.

Als Doderer 1951 mit seinem 900seitigen Roman „Die Strudlhofstiege“ endlich der große Durchbruch glückte, stand er als literarischer Newcomer bereits in der Mitte seiner Fünfziger. Nachdem die großen österreichischen Schriftsteller der Vorkriegszeit inzwischen verstorben waren oder im Exil ausharrten, wurde Doderer der Statthalter einer im eigenen Land stark ausgedünnten Schriftstellergeneration. Im Jahre 1956 erlebte er Vollendung und Erfolg seines zwischenzeitlich unterbrochenen, monumentalen „Dämonen“-Romans. So rückte der inzwischen 60jährige Autor in den Rang eines paradigmatischen Autors der fünfziger Jahre auf.

Dabei war das, was seinem späten Ruhm an schriftstellerischer Produktion vorangegangen war, durchaus beträchtlich. Bereits in den während der zwanziger Jahre entstandenen Romanen „Die Bresche“ und „Das Geheimnis des Reichs“ hatte Doderer zwei Grundthemen seines ×uvres entfaltet: die Lehre von „punctum minimae resistentiae“, jenes charakterlichen Punktes des geringsten Widerstandes, dessen lebenspraktische und pädagogische Potentiale Doderer ein Leben lang auszuloten versuchte; und die Erscheinungsweisen politischer Dämonologie. In dem „Kriminalroman“ „Ein Mord, den jeder begeht“ (1938) hatte Doderer die lineare Entwicklung einer Geschichte, sonst nicht unbedingt seine Sache, technisch virtuos und motivisch meisterhaft gestaltet.

Wie an einem zentralen Nebenschauplatz arbeitete Doderer jedoch nebenbei kontinuierlich an seinem Tagebuch, aus welchem wiederholt Romane hervorgingen, und in das sich diese Romane in produktiven Krisenzeiten wieder zurückzogen. Mit der Herausgabe dieser Tagebücher („Tangenten“, „Commentarii“ und „Frühe Tagebücher“) hat Doderer noch selbst begonnen. Mit ihrem sukzessiven Erscheinen, das erst in diesem Jahr (mit den „Frühen Tagebüchern 1920 bis 1939“) zu seinem vorläufigen Abschluß kommen wird, hat nach und nach ein völlig anderes Doderer-Bild an Deutlichkeit gewonnen. Wer in Heimito von Doderer zuvor einen modischen Autor der fünfziger Jahre mit ausgeprägtem Sinn fürs episch Handfeste, fürs konstruiert Affekthafte und motivisch Aparte erblickt hatte, wurde belehrt. Ein Autor trat an die Öffentlichkeit, der voller ideeller Prätentionen und ideologischer Prämissen zu stecken schien, ein Grübler, der mit seinen theoretischen Zielen haderte und dabei seinen geistigen Ursprüngen verhaftet blieb. Ihm fehlte es an eben jener Leichtigkeit und kompositorischen Ironie, die seine Romane und Erzählungen auszeichnete.

In einem Interview hat Doderer 1957 rundheraus erklärt, der Schriftsteller sei „ein ekelhafter Kerl“, ein „Techniker“, dessen Arbeit nicht auf ein Publikum abziele, sondern auf die Entwicklung seiner eigenen „Geistesmechanik“. Bei einer solchen Zielsetzung hat das Werk eines Schriftstellers offenbar nicht primär den Sympathien und politischen Korrektheitsansprüchen seiner Leser zu genügen. Vor allem aber kann es, als durchaus private Entwicklungs- und Selbsterziehungsmaßnahme, mißlingen, ohne damit für die Leser obsolet zu sein. Anders gesagt: Die ideologischen Probleme und Brüche Doderers können sein Werk nicht vor der literarischen Faszination retten, welche dem Autor noch heute zu Recht zahllose Leser sichert. Die Abhängigkeit von Doderers epischer Kraft von erheblichen ideologischen Fragwürdigkeiten macht heute eher die Modernität, ja, den Reiz seiner Prosa aus. Die oft voreilige geistige Orientierung Doderers ist als Zeichen seiner Orientierungslosigkeit zu lesen.

Als Doderer zu seinem 70.Geburtstag noch einmal um einen Lebenslauf gebeten wurde, wich er der Bitte durch Überbietung aus: Er lieferte „neunzehn Lebensläufe“ ab. Unter ihnen ist einer, welcher das ×uvre Doderers als einen beständigen Prozeß des Ringens um Erkenntnis beschreibt. Er lautet: „Mein eigentliches Werk besteht, allen Ernstes, nicht aus Prosa oder Vers: sondern in der Erkenntnis meiner Dummheit.“ Von den veröffentlichten „neunzehn Lebensläufen“ Doderers ist dieser Lebenslauf der letzte. Heute wäre Heimito von Doderer hundert Jahre alt geworden.

Weiterlesen: Wolfgang Fleischer: „Heimito von Doderer. Das Leben. Das Umfeld des Werks in Fotos und Dokumenten.“ Kremayr & Scheriau, Wien 1995, 222 Seiten, 67 DM