: Nur eine ideelle Mitte
taz-Serie „Das Verschwinden des öffentlichen Raums“ (Teil 8): Mit der Entwicklung von virtuellen Räumen verschwindet der Stadtraum, meint Edouard Bannwart. Mit ihm sprach ■ Uwe Rada
taz: Herr Bannwart, in Ihrer CyberCity kann man in die Gegend um den Gendarmenmarkt eintauchen oder sich im virtuellen Schauspielhaus bewegen. Wohin geht die Reise mit den virtuellen Räumen?
Edouard Bannwart: Sie werden ein Teil künftiger Kommunikationsszenarien sein. Es wird möglich sein, in verschiedenen Bereichen gleichzeitig denselben Raum zu betreten, dasselbe zu sehen. Das ist eine kurze Frage der Zeit, bis man sich in diesen virtuellen Räumen trifft, zusammen kommuniziert und handelt. Die virtual reality wird als ein zukünftiges Kommunikationsinstrument viel mehr können als Interface-Kommunikation oder Videokonferenzen.
Kann denn ein solcher künstlicher Raum eine tatsächliche Begegnung ersetzen?
Information heißt ja, daß Sie sich über verschiedene Schichten informieren. Wir können einen Tisch immer noch besser anfassen als ihn uns über Tele-Shopping ansehen. Wir arbeiten schon noch mit allen Sinnen. Deshalb gehen wir ganz gerne flanieren und erwarten bestimmte Dinge an einem Ort. Aber es gibt eben eine zweite Schicht der Information. Das ist die immaterielle Schicht, die als Informationsebene deshalb eine gewaltige Bedeutung bekommt, weil die materiellen Infrastrukturen gar nicht mehr richtig nutzbar sind. Die Straßen sind überfüllt, die Mobilität eingeschränkt, und das führt letzten Endes dazu, daß wir im immateriellen Bereich viel schneller an Informationen herankommen.
Wird der öffentliche Raum, die Stadt mit ihren Wegen, die von einem realen Ort zum andern führen, damit entbehrlich?
Stadt hat sich immer über Information definiert. Über die Information Wegekreuzung, die Information Marktplatz. Orte wie zum Beispiel ein Brunnen oder ein Platz waren immer auch die Erwartungsorte für Information. Daraus entstand ja der Begriff der Öffentlichkeit. Heute ist Stadt dagegen nur noch eine Orientierungsmetapher.
Die Stadt als Informationsort wird vom Netz ersetzt.
Die Produktion hat sich immer danach bestimmt, wie schnell produziert werden konnte, wie schnell man an den Markt, wie schnell man zu Informationen kam. Ich sehe jetzt die nächste Stufe der Produktionsbedingungen darin, daß all diese Dinge über die immateriellen Kommunikationsnetze beschleunigt werden können. Jeder Produktionsbetrieb, jeder Ort der Stadt, der nicht in solche Telekommunikationsnetze kommt, ist im Prinzip ein Unort. Ein Unort im Sinne des Informationsverbundes.
Welche Bedeutung kommt dann noch der Stadt, öffentlichen Straßen und Plätzen zu?
Ich halte es für falsch, das gegenüberzustellen. Es ist nicht so, daß das eine aufhört und das andere weitergeht. Die Informationsdichte hat Betraux einmal als „soziale Temperatur“ beschrieben. Das finde ich einen sehr schönen Begriff. Diese Informationsdichte ist aber nicht eine, die entweder nur über das Netz oder über die reale Situation kommt, sondern sie verknüpft sich an allen Stellen immer wieder, ob das nun eine passive Information zum Beispiel über den Fernseher ist oder eine über den Rechner oder eine real erlebte draußen.
Die Begegnung am Rechner kann doch keine soziale Erfahrungen ersetzen.
Ich glaube, man begibt sich sogar in virtuelle Realitäten nur deshalb, um in der Ökonomie der Aufmerksamkeit einen realen Gewinn zu machen. Der Rechner bietet dabei eine zusätzliche Handlungserweiterung. Indem ich solche Geräte besitze, kann ich mich auch anderen als Besonderheit herausstellen, kann real ganz anders mit ihnen umgehen.
Wie wird Ihrer Ansicht nach die Stadt, städtisches Leben, in zehn oder zwanzig Jahren aussehen?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie sehr viel anders aussehen wird. Stadt ist ein Begriff für Informationsdichte. Wenn ich in die Stadt gehe, downtown, dann erlebe ich etwas. Stadt ist also eine Ortsbestimmung. Diese Ortbsbestimmung hört spätestens an den Rändern auf, wo man gar nicht mehr feststellen kann, wo die Stadt zu Ende ist und wo sie anfängt. Es gibt also nur eine ideelle Stadt im Kopf. Zum Beispiel das Kranzler-Eck, wo alle Leute hingehen, wenn die Mauer fällt, wenn Deutschland Fußballweltmeister wird, wenn man demonstrieren will. Man geht zu einer völlig unscheinbaren Ecke, und niemand weiß, warum. Das sind ideelle Mitten, die wir mehr in uns haben, als daß die Stadt selbst sie hergibt.
Es gibt aber eine Bewegung zurück in die Innenstädte. Ist die neue Reurbanisierung lediglich dieser Suche nach einem Bild, einer ideellen Mitte geschuldet?
Diese Suche haben wir alle in uns. Wir möchten am liebsten immer alles gleichzeitig haben. Ich habe ziemlich lange in Kreuzberg gelebt. Das lustigste für mich war damals immer, daß man dort, direkt an der Mauer, einen Bauernhof errichtet hat. Der Traum eines Bauernhofs mitten in einer Stadt, das hat mich immer fasziniert. Dieser Traum ist ja legitim, aber er hat mit realer Stadtentwicklung, die über die Ökonomie definiert wird, natürlich nichts zu tun.
Wenn es Stadt nur noch ideell gibt, wenn die Informationsdichte im Netz größer ist als auf Straßen und Plätzen, was wird dann aus der gebauten Stadt, aus ihrer Hülle?
Ich habe eine ganze Weile gegenüber der Avnet-Infowand am Ku'damm gelebt, habe mich da immer rasiert und rausgeschaut und fand das toll. Ich glaube, daß die Möglichkeiten der Medien auf die Stadt eine ganz große Wirkung haben werden. Die Schnittstelle, wie wir sie jetzt kennen, die Fassade, wird durch diese Medien neu bestimmt werden.
Häuser werden also Übertragungsmedien, Bildträger für neue Medien und Informationstechniken.
Da bin ich mir ziemlich sicher. Und daraus entsteht natürlich auch eine neue Architektur. Ich bin sehr gespannt, wann sich dieser große Schritt in der Architektur auch hier in Europa einmal durchsetzen könnte. In Asien passiert da ja schon einiges.
In Europa wird die moderne Nutzung hinter restaurierten Fassaden aus dem 19. Jahrhundert versteckt. Wird damit nicht einem Bedürfnis nach Orientierung der Stadtbevölkerung Rechnung getragen? Die Gewohnheit, Orte zu lesen, selbst neue Orte wie den Pariser Platz?
Das ist die Widersprüchlichkeit, die in uns allen drinsteckt. Auf der einen Seite möchten wir gernKontinuität, auf der anderen Seite interessiert das Abenteuer der ständigen Veränderung.
Nun hat das Fernsehen die Alltagswelt schon so sehr verändert, daß die Bilderwelt der Flimmerkiste für viele oft „wirklicher“ ist als die reale Welt. Geht von der virtuellen Realität nicht eine noch viel größere Gefahr aus?
Das sehe ich weniger dramatisch. Wir haben auch da ein bestimmtes Limit, wo wir einfach nicht mehr erleben können. Deshalb ist das alles eine Frage der Bilanzierung, die jeder für sich selber zieht. Und zwar immer in Richtung der eigenen realen Erlebnisfähigkeit. Für Behinderte zum Beispiel ist der Rechner eine tolle Erweiterung ihrer Lebensqualität. Für andere kann er zu einer echten Behinderung führen. Ich glaube, man muß ganz fürchterlich aufpassen, daß man die Technologie für etwas verantwortlich macht, was eigentlich eine Frage unserer Gesellschaft ist.
Nicht jeder wird das Netz benutzen. Der virtuelle Raum wird auch einer sein, der für viele verschlossen bleibt. Wird die Spaltung der Gesellschaft, der Stadt, durch das Netz vorangetrieben?
Das ist wirklich eine spannende Frage. Natürlich beginnt es an der Stelle auch, sich finanziell zu definieren. Das ist ja im Prinzip die Segmentierung. Die Abbildung im Netz ist aber nur eine Abbildung von dem, was insgesamt an Segmentierung ökonomisch gegenwärtig stattfindet. Aber es ist auch so, daß man mit relativ geringfügigen Mitteln sich schon heute im Internet als Arbeitskraft wieder anbieten kann. Es passiert einfach eine Umstrukturierung. Ich bin nicht gern so schnell dabei, zu sagen, jetzt wird alles nur schlimmer und schlimmer. Die Frage ist eher, wie man Bedingungen dafür schaffen kann, daß möglichst viele diese auch nutzen können, um unter Umständen flexibler auf eine mittlerweile doch sehr unflexible Wirtschaftspolitik reagieren zu können.
Wenn es möglich wäre, sich mit Hilfe virtueller Realitäten ans Meer zu versetzen. Was würden sie lieber tun? VR-Helm aufsetzen oder richtig ans Meer fahren?
Ich würde immer, wenn es nicht zuviel Aufwand macht – und das ist schon der Einwand – ans Meer fahren. Aber ich gehöre auch zu denjenigen, die, wenn sie nicht schlafen können, den Strand in Venice im Fernsehen anschauen. Das beruhigt. Und da wir das immer besser simulieren können, ist es denkbar, daß wir uns in solche Räume versetzen, genauso wie wir autogenes Training machen. Wir können uns ja fürchterlich überlisten, optisch, akustisch, das tun wir jeden Tag. Aber wenn man ein reales Erlebnis hat, ist es immer gewaltiger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen