Waisenkind wurde ausgeborgt

Das Geschäft mit gefälschten bosnischen Ausweispapieren zum Sozialhilfebetrug blüht. Vier Bosnier und zwei Türken stehen vor Gericht  ■ Von Plutonia Plarre

Adić, Hadić, Milović, Sentović, Usić. Mit monotoner Stimme verlas der Staatsanwalt gestern aus der Anklageschrift 90 Namen. Decknamen bosnischer Kriegsflüchtlinge, die mit gefälschten Ausweisen von mehreren Sozialämtern unberechtigt Sozialhilfe kassiert haben. Der Schaden wird auf 2 Millionen Mark geschätzt. Als Drahtzieher gilt der 39jährige Diplomjurist Kanadir D., der sich seit gestern zusammen mit drei bosnischen Landsleuten wegen Betruges und Urkundenfälschung vor dem Landgericht verantworten muß.

Die vier sollen von Januar 1994 bis Dezember 1995 mit gefälschten Ausweisen zum Stückpreis von 300 Mark gehandelt haben. Mitangeklagt sind zwei Türken, die die Druckvorlagen für die Fälschungen hergestellt haben sollen. Nach Angaben von Staatsanwalt Thorsten Cloidt ist das Verfahren nur die Spitze des Eisbergs. In Berlin hätten sich mehrere Tätergruppen auf das Fälschen bosnischer Papiere zum Erschleichen von Sozialhilfe spezialisiert. Den Gesamtschaden schätzte der Staatsanwalt auf eine zweistellige Millionensumme.

Die vier angeklagten Bosnier sitzen seit März in Haft. Nach ihrer Festnahme hatten sie sich zum Teil gegenseitig belastet. Gestern versuchten sie von ihren früheren Aussagen wieder abzurücken. Der Hauptangeklagte Kanadir D. sagte überhaupt nichts. Die anderen Bosnier behaupteten, keine Geschäfte mit gefälschten Dokumenten gemacht zu haben. Der 33jährige Arif S. bestätigte lediglich, für sich selbst, seine Ehefrau und seine Kinder zwei Jahre lang mit gefälschten Ausweisen doppelt Sozialhilfe kassiert zu haben. Vom Sozialamt Wedding, wo er mit richtigem Namen gemeldet gewesen sei, habe er für die Familie mit zwei Kindern monatlich 1.300 Mark erhalten. Mit einem zweiten, gefälschten Dokument, habe er vom Sozialamt Hellersdorf 1.700 Mark monatlich bekommen, nachdem er sich mit den falschen Papieren zuvor bei der Ausländerbehörde als bosnischer Kriegsflüchtling registrieren ließ. Daß er dort bereits unter seinem richtigen Namen gemeldet war, flog deshalb nicht auf, weil bei Kriegsflüchtlingen im Gegensatz zu Asylbewerbern keine Fingerabdrücke genommen werden dürfen.

Beim Hellersdorfer Sozialamt hatte Arif S. ein bosnisches Waisenkind als sein drittes Kind ausgegeben und deshalb noch mehr Sozialhilfe als im Wedding kassiert. Außerdem wies ihm das Sozialamt eine Wohnung zu, in die Arif S. aber nie einzog, für die die Behörde aber regelmäßig die Miete bezahlte. Auf die Frage, was er mit dem Geld gemacht habe, erklärte der Angeklagte: „Ich habe jeden Monat mehrere Pakete mit Kleidung und Lebensmitteln nach Bosnien geschickt und damit acht Verwandte und sechs Nachbarn unterstützt.“ Der Staatsanwalt geht davon aus, daß Arif S. als „Makler“ des Hauptangeklagten Kanadir D. gearbeitet hat, indem er vor der Ausländerbehörde Kriegsflüchtlinge als Käufer von gefälschten Papieren zu gewinnen versuchte. Arif S. bestritt dies entschieden. „Ich habe mich dort aufgehalten, um frisch angekommenen Landsleuten zu helfen.“ Auch davon, daß er den Hauptangeklagten früher als Kopf der Fälscherbande belastete, wollte Arif S. gestern nichts mehr wissen. Der Prozeß wird fortgesetzt.