Hollywood durch die Hintertür

■ Heute abend wird der Goldene Löwe der 53. Filmfestspiele von Venedig vergeben. Im Wettbewerb hatte man auf Altmeister gesetzt und verloren. Neue und alte Independents waren die geheimen Stars Aus Venedig Mari

Hollywood durch die Hintertür

Vor dem Casino am Lido de Venezia, schon fast am Meer, steht noch bis heute abend ein riesiger Bildschirm der italienischen Fernsehanstalt Telepiù, auf dem Pressekonferenzen, Filmausschnitte und das Tagesprogramm zu sehen sind. Wenn es heiß wird und die Sonne drauf fällt, kann man nichts mehr sehen, aber alles hören. Vorgestern früh lief, direkt nachdem Jean-Luc Godard vom Podium gegangen war, ein Porno. Es stöhnte und keuchte. Die Leute lachten nervös; einige blieben stehen, kamen ins Gespräch, tauschten Visitenkarten.

Telepiù soll, wenn die „Mostra Internationale d'Arte Cinematografica“, die Filmfestspiele von Venedig, demnächst privatisiert werden, einen erheblichen Prozentsatz der Anteile erhalten. Kultusminister Walter Veltroni hat sich für diese Strategie entschieden, nachdem wieder überdeutlich wurde, daß 200 staatliche Entscheidungsträger für ein Filmfestival einfach zuviel sind. Als Nachfolger des jetzigen Festivalleiters Gillo Pontecorvo sind unter anderem der Filmemacher Nanni Moretti oder der Leiter des Filmfestivals Locarno, Marco Müller, im Gespräch — beides Kandidaten, die Pontecorvos Überzeugung, nur die sogenannten „Altmeister“ könnten noch „innovative Filme“ machen, kaum unterschreiben dürften. Der Wettbewerb der 53. Mostra gäbe ihnen jedenfalls recht. Alle waren auf Nummer Sicher gegangen: Volker Schlöndorff hatte zwar auf Handzetteln vorab gewarnt, er werde sich nun mit der Faszination des Faschismus beschäftigen, aber was man dann in „Der Unhold“ sieht, erinnert eher an einen arte-Themenabend: kurze Hosen, Jungsglück, Lagerfeuer? Ja, aber laßt auch den Widerstand sprechen! Pulverdampf aus Babelsberg, gesehen wie durch die Nickelbrille in „Draußen vor der Tür“: Ein Freak aus Paris, Abel Tiffauges (John Malkovich), dem die Unschuld in den zwinkernden Blick geschrieben ist, führt uns durch den Mythenwald.

Ken Loach („Land and Freedom“) hat an seinem David-und- Goliath-Schema, in das er für jeden Film wieder einen neuen Fall einspeist (Iren und Engländer, Frauen und Ämter, Spanische Republik und Faschismus), weitergestrickt. Wieviel interessanter könnte „Carla's Song“, die Romanze zwischen einer Sandinista und einem Glasgower Busfahrer sein, wenn sie sich im heutigen Nicaragua abspielte! Statt dessen spielt der Film zur Zeit der letzten großen Contra-Offensive.

Als dann Manoel de Oliveira seine „Party“, mit Michel Piccoli, Irene Papas und zwei Jungmenschen, vorstellte, war die gepflegte Erwartungshaltung der Presse schon einer gewissen hysterischen Albernheit gewichen; angesichts eines Dialogs über und unter einem hübsch geschnitzten, riesigen Fisch auf dem Tisch, in dem es um Männer und Frauen und das Zügeln der Leidenschaften ging, war kein Halten mehr. In Neil Jordans („The Crying Game“) historisch geglätteter Biographie des irischen Befreiungskämpfers Michael Collins bleibt in dem gleichnamigen Film nichts als ein paar pittoresk verschmutzte Vignetten.

Am sympathischsten scheiterte wohl Jean-Luc Godard, der in seinem Film „Forever Mozart“ Dreharbeiten für einen anderen Film mit dem Titel „Bolero Fatal“ zeigt, ein Titel, der, wie Godard erläuterte, Europas ewige Verstrickung in Bürgerkriege, von Spanien bis Bosnien, anklingen lassen soll. Bei einer Vorführung in Sarajevo hatte die Hälfte der Zuschauer das Kino verlassen; offenbar, wie Hauptdarstellerin Madeleine Assas berichtete, nicht, weil die Bilder zu grausam gewesen seien — das sind sie auch nicht –, sondern „weil sie die Abstraktion nicht ertragen konnten“. Godards Verrätselungsstrategie, mit der er den Zuschauer bisher auf seine Fährte lockte, versagt in dem Moment, wo zwei Schauspieler sich auf Geheiß der UNO ein Grab schaufeln sollen. Schließlich sieht man nur noch einen Fuß aus der Erde ragen — ein unvermittelt anrührendes Bild, aus dem man vor allem erfährt, daß Godard die Abstraktion selbst nicht mehr ertragen hat.

Das Geheimnis bestand darin, den Wettbewerb einen guten Mann sein zu lassen und Impulsen zu folgen. Verbotene Früchte! Das Zauberwort hieß: Independents. Eine Schau mit dem Titel „Retrospettiva Beat“ faßte zusammen, was in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren bei Filmemachern wie Stan Brakhage, Ron Rice oder Jonas Mekas damit gemeint war: Von 16 Millimeter- Handkamera gefilmte Einzelgänger, Doppelgänger, auf Touren durch Mondnächte, New Yorker Stripteaseclubs (später San Francisco), Hafenanlagen, Feuertreppen, den Central Park und natürlich Unfallorte. Die eigene Wohnung wird zum undurchdringlichen Urwald: Erfahrungshunger! Drogenerlebnisse aller Couleur suchen passende Bilder. Musik von Miles Davis, später spielt Ken Kesey selbst (Gesang: Allen Ginsberg, „Try a little generosity“). Handfeuerwaffen kommen zum Einsatz, meist zufällig, oft zum Selbstmord. Man trinkt Gin. Während damals die Sensation darin bestand, alles zu zeigen, (Sex, Drogen, Rock 'n' Roll), ohne etwas zu erzählen, kommt es dreißig Jahre später darauf an, etwas zu erzählen, ohne es direkt zu zeigen. Mit Allison Anders, Abel Ferrara, Tom Di Cillo, Robert Lepage und Doug Liman — Namen, die Sie sich merken sollten! — war in Venedig eine stattliche Abordnung jener neuen, inzwischen vernetzten Independent-Szene vertreten, deren Stern 1984 mit Jim Jarmuschs „Stranger than Paradise“ aufging. John Pierson, New Yorker Kinobetreiber, Verleiher und Produzent, bezeichnet sie als „art movie brats“, Leute, die mit einem Gemisch aus Cassavetes, Peckinpah, Coppola einerseits und europäischen Filmen andererseits groß wurden und dann Filmschulen besuchten, an denen Leute wie Martin Scorsese unterrichten.

Man glaubt es kaum, aber der europäische Filmemacher mit dem größten Renommee in dieser Generation ist Wim Wenders. Das Amerika, das man in Filmen von Allison Anders („Gas, Food & Lodging“) sieht, hat mehr Ähnlichkeit mit „Paris, Texas“ als mit dem Selbstangebauten. Wenders gab Jarmusch das Schwarzweißmaterial für „Stranger than Paradise“. Allison Anders hatte Wenders solange mit Briefen bombardiert, bis sie in „Paris, Texas“ assistieren durfte. Mit Filmen wie „Clerks“ („Ladenhüter“), „She's gotta have it“ oder „Poison“ entstand ein neues Programmkino- Menü, dessen Kochstudio das jährliche Sundance-Filmfestival in Utah/USA wurde.

In Venedig spielten die Indie- Regisseure ihre Trumpfkarten: Allison Anders mit „Grace of My Heart“ das Porträt einer gewitzten Dame, die in den sechziger Jahren, als man Männercombos liebte, Singer und Songwriter war; einem Film, für den Elvis Costello und Burt Bacharach den Soundtrack lieferten. Abel Ferrara mit einem dunklen Mafia-Kammerstück, „The Funeral“, mit Isabella Rosselini und Christopher Walken; Tom Di Cillo mit „Box of Moonlight“, einer Art Pas de deux für einen Ingenieur und einen Naturfreund. In Doug Limans „Swingers“ schließlich sieht man eine Gruppe von eleganten jungen Losern, die versuchen, Hollywood durch die Hintertür zu betreten. Einmal sitzen sie um den Tisch in einer Art, die verdächtig an Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“ erinnert. Einer sagt: „Aaach, für ,Reservoir Dogs‘ mußte er doch bei Scorsese abkupfern.“ Ein anderer entgegnet: „Ach was, irgendwo muß eben jeder abkupfern.“