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Die gestrige Volksabstimmung auf den Okinawa-Inseln richtete sich nicht nur gegen die US-Militärbasen. Die Mobilisierung hat gezeigt, daß sich japanisches Nationalbewußtsein auf Okinawa auch heute nicht von selbst versteht Aus Naha Georg Blume

Okinawas alte Wunden

Yoshiko Fukumura hat den tiefbraunen Teint der Ureinwohner Okinawas. Im grünen Overall des Putzpersonals der US-Militärbasis ist sie in der Mittagspause ins nahe Wahllokal geeilt, um ihre Stimme gegen den eigenen Arbeitgeber abzugeben. „Heute ist ein historischer Tag für unser Land“, sagt die 67jährige und meint damit nicht Japan, sondern ihre Inselheimat Okinawa. „Zum erstenmal können wir demokratisch über unser Schicksal entscheiden.“

Die Begeisterung über die erste Volksabstimmung Okinawas eint am Sonntag die Mehrheit der 1,2 Millionen Inselbewohner im äußersten Süden Japans. Seit 1945 ist hier der größte Teil der amerikanischen Truppen in Japan stationiert. Erstmals können die Inselbürger darüber abstimmen, ob sie die vom Weltkrieg auferlegte Bürde weiter zu tragen bereit sind. Zur Wahl steht die „Minimalisierung“ der US-Militärbasen – und eigentlich sind alle dafür. Sogar der Chef der lokalen Liberaldemokraten, die auf Befehl ihrer Regierung in Tokio zum Wahlboykott aufgerufen hatten, räumt ein: „Wir waren immer für die Reduzierung der Basen. Unsere Politik unterscheidet sich nicht von der des Gouverneurs“, sagt LDP-Generalsekretär Hiroshi Nakamatsu.

Das Motto des populären Inselgouverneurs Masahide Ohta lautet: „Wir lösen unsere Probleme selbst.“ Dem souverän auftretenden Soziologieprofessor ist es in seiner sechsjährigen Amtszeit gelungen, Okinawa ein neues Selbstbewußtsein zu geben. Längst wird Ohta in ganz Japan gefeiert, weil er der Arroganz den Zentralregierungen in Tokio und Washington gleichermaßen die Stirn bietet.

Ohta kommen mehrere Entwicklungen entgegen: Seit 1972 ist das wirtschaftliche Gewicht der Militärbasen von 20 auf 5 Prozent des lokalen Bruttosozialprodukts zurückgegangen. „Wir stimmen ohne Bedenken ab“, meint Okinawas „Wirtschaftsminister“ Masaharu Miyagi, der regelmäßig zwischen Taipeh, Schanghai und Manila hin- und herreist und den Amerikanern rät, auf Okinawa ein Disneyland zu errichten. Dabei ähnelt die einst verarmte Hauptstadt Okinawas, Naha, längst einer japanischen Provinzmetropole. Luxuriöse Kaufhäuser und Bürobauten prägen die seit dem Ende der US- Besatzung 1972 neuerrichtete Innenstadt.

Die zweite Entwicklung, von der man auf Okinawa profitieren will, findet auf höherer Ebene statt: „Die Rolle des US-japanischen Sicherheitsbündnisses ist mit dem Ende des Kalten Krieges ausgespielt“, glaubt Professor Seichi Sakugawa, der die öffentliche Kampagne für die Volksabstimmung leitete. Nicht einmal die chinesischen Raketenmanöver vor der nahen Küste Taiwans haben den Inselbewohnern Angst eingejagt. Viel stärker wiegt für die meisten die Erinnerung an das unabhängige Königreich Okinawa, das vor der gewaltsamen japanischen Annektion von 1609 über viele Jahrhunderte intensiven Handel und friedliche Kontakte mit China und Japan pflegte. Es mögen auch die bitteren Kriegserfahrungen mit Japan und den USA sein – deren Armeen im Frühjahr 1945 ein Drittel der Zivilbevölkerung Okinawas töteten –, die manchen freundlich nach China blicken lassen. Während der Schlacht um Okinawa waren es vor allem die japanischen Truppen, die auf die Zivilbevölkerung der Insel keine Rücksicht nahmen und viele in den unfreiwilligen Selbstmord trieben.

Die Wunde ist bis heute nicht verheilt. Der japanische Kaiser konnte Okinawa erst Anfang der neunziger Jahre das erste Mal besuchen. Zwar bittet LDP-Lokalchef Nakamatsu zum Interview vor der japanischen Fahne und einem Bild des Premierministers, doch während des Gesprächs betont er gleich dreimal: „Ich bin Japaner.“ Ein sicheres Indiz dafür, daß sich das Nationalbewußtsein auch heute nicht von selbst versteht.

Viel tiefer gehen die Selbstzweifel in dem Städtchen Yomitan, wo sich im April 1945 140 Menschen vor den US-Truppen in einer Lavasteinhöhle versteckten und 84 von ihnen den ideologisch erzwungenen Freitod für den Kaiser wählten — zumeist Frauen und Kinder, deren Männer im Krieg waren. Bis in die achtziger Jahre gingen die Angehörigen aus Yomitan nur nachts zu der Höhle, um für die Toten zu beten. Als Bürgermeister Tokushin Yamauchi (siehe Interview) schließlich ein Denkmal vor der Höhle errichten ließ, wurde es von rechtsradikalen Kaiseranhängern im Jahr 1988 zerstört und erst zum 50jährigen Gedenken vor einem Jahr wiederhergestellt. Zwischen Schilf, Zuckerrohr und Bambuszweigen ähnelt die Gedenkstätte freilich auch heute noch einem Ort der Verstoßenen.

Gouverneur Ohta ist sich der historischen Lasten wie kein anderer bewußt. Er veröffentlichte 1991 einen sorgfältig zusammengestellten Fotoband unter dem Titel „Völkermord“, der von den japanischen Verbrechen auf Okinawa und in Asien berichtet. Einige Bilder zeigen US-Soldaten, wie sie nach der Besatzung Frauen und Kinder bergen. „Ich habe mich damals über den amerikanischen Sieg gefreut“, erinnert sich Kampagnenleiter Sakugawa. „Aber in den 50 Jahren danach haben uns die Amerikaner um unsere Rechte und Freiheit betrogen.“

Heute ist auf Okinawa viel von der „Belästigung“ durch die Amerikaner die Rede: Tausende von Verbrechen und Vergewaltigungen durch GIs und fortwährender Kriegslärm in den am dichtesten besiedelten Gegenden der Insel haben die Erinnerungen an die Befreier von 1945 ausgelöscht. Davon zeugt auch das gestrige Wahlergebnis: 60 Prozent der Wahlberechtigten gingen trotz herrlichstem Sonnenschein bei tropischen Temperaturen nicht an den Palmenstrand, sondern zur Urne. Zwar bindet die Abstimmung den japanischen Gesetzgeber nicht und liefert im strengen Sinne nur ein Stimmungsbild. Dennoch gibt es kaum Zweifel, daß Tokio und Washington ihre Sicherheitspolitik nicht mehr gegen den Willen Okinawas durchsetzen können.

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