„Deutschland hat geschlafen“

■ Martin Seeleib-Kaiser vom Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen stellt die Standortfrage

taz: Als Vorteile der Wirtschaftsstandorte USA und Großbritannien wird derzeit oft das schlankere Sozialsystem angegeben. Müssen die Deutschen nachziehen? Die fortschreitende Globalisierung schränkt die Handlungsautonomie der einzelnen Länder doch ein.

Martin Seeleib-Kaiser: Grundsätzlich ist das richtig. Die Industrie will aber den Augenblick nutzen, um gleich die soziale Absicherung als Ganze in Frage zu stellen. Unter dem Strich geben die USA zum Beispiel fast genauso viel für ihr soziales System aus wie wir, wenn man die betrieblichen Sozialleistungen berücksichtigt.

Aber dort gibt es nicht mal eine gesetzliche Krankenversicherung.

Deswegen spart die Gesellschaft aber noch kein Geld. In den USA werden die großen Unternehmen stark belastet: Sie versichern ihre Beschäftigten gegen Krankheit. Kleinere Unternehmen wie Einzelhändler häufig nicht. Arbeitet nun ein Teil der Familie bei einer kleinen, ein Teil bei einer großen Firma, so ist die ganze Familie über das Großunternehmen versichert. Und das kostet. Wenn sie nicht mitversichert sind, erhalten sie trotzdem eine Notversorgung in den Krankenhäusern. Das wird auf die Krankenhaussätze der Versicherten draufgeschlagen. Vorteile haben von diesem System nur die Unternehmen, die nicht selbst versichern.

Die deutschen Arbeitgeber beklagen hohe Sozialleistungen.

Wir müssen davon wegkommen, Sozialleistungen nur als Kosten zu sehen. Die hohen Lohn- und Sozialkosten wirkten auch als Produktivitätspeitsche und verstärkten die Anpassungsfähigkeit.

Aber der Produktivitätsvorteil der deutschen Wirtschaft schrumpft oder verschwindet gegenüber vielen Ländern.

Ja, immer mehr Länder wie Südkorea kommen auf die Füße. In den letzten eineinhalb Jahrzehnten haben es die hiesigen Unternehmen nicht geschafft, einen großen Teil der Fertigung von Gütern mit niedriger Technologie in Billiglohnländer auszulagern – wie die Japaner. Dort sind nur 25 Prozent in einer lebenslangen Anstellung bei Großunternehmen. Der Rest hat niedrige Löhne und niedrige Arbeitsstandards.

Aber Arbeit wird doch aus Deutschland ins Ausland verlagert und treibt die Arbeitslosenzahlen in die Höhe.

Weil Deutschland seit dem Anfang der derzeitigen Globalisierungswelle, etwa 1973, geschlafen hat. Die hohe Belastung der Arbeit durch Sozialbeiträge macht den Standort Deutschland unattraktiv. Die Flächentarife führten dazu, daß sich keine Randbelegschaft bildete samt Arbeitern mit niedrigen Löhnen und ungesicherten Jobs. Die Deutschen wollten auch in allen Industriesektoren gleichzeitig top sein und sich nicht umstellen auf bestimmte innovative Bereiche, so daß der strukturelle Wandel heute schärfer ist.

Das Vorbild Japan bleibt?

Japan betreibt neben High- Tech eine bewahrende Politik im Dienstleistungsbereich. Der Marktanteil der Supermarktketten etwa ist niedriger als in Deutschland, es gibt noch viel mehr Tante- Emma-Läden. Dort werden Menschen mit niedrigerer Qualifikation beschäftigt. In Deutschland wurde und wird versucht, durch Flächentarifverträge möglichst viele Menschen im Kernbeschäftigungssystem zu halten.

Aber was passiert, wenn die Tarifbindung aufgehoben wird? In Großbritannien, dem neoliberalen Musterland der EU, hat die Freigabe der Löhne, die Aufhebung des Kündigungsschutzes und die Entmachtung der Gewerkschaften nicht nur Vorteile gebracht.

Die Erwerbseinkommen driften auseinander, und die Schwächsten fallen aus dem Erwerbsleben heraus. Die Kosten dafür würden künftig noch stärker auf den Staat verlagert werden. Dieser ist in der BRD verfassungsmäßig verpflichtet, das Existenzminimum zu garantieren.

Angeblich werden doch durch eine Liberalisierung neue Jobs geschaffen...

Jobs mit niedriger Qualifikation und niedrigen Löhnen.

Großbritanniens ehemalige Regierungschefin Margret Thatcher hat ja auf die Kräfte des Marktes gehofft. Die haben die Reduzierung der Sozialkosten in England aber doch kaum aufgefangen...

Die niedrige Sozialleistungsquote hat nicht notwendigerweise die Vollbeschäftigung zur Folge. Als Standortfaktoren kommt ja der Zustand der Infrastruktur hinzu wie zum Beipiel Bildung oder Transportwege. Die Briten geben außerdem fast genauso viel für Arbeislose, Rente und Gesundheit aus wie wir. Laut der EU- Statistik waren das 1992 27,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In den alten Ländern der Bundesrepublik waren es in der gleichen Zeit 27,3 Prozent.

Die Industrie argumentiert doch immer mit den notwendigen Einsparungen durch Schnitte ins soziale Netz?

Noch 1989 lag die Sozialquote in Großbritannien nach den Reformen Thatchers bei 21 Prozent. Anfang der Neunziger stieg die Arbeitslosigkeit dann stärker als in Deutschland. Arbeitslose kosten den Staat viel Geld. Die Arbeitslosenquoten sind allerdings nicht ohne weiteres vergleichbar. Der US-Ökonom Lester Thurow meint etwa, daß die „niedrige“ US-Arbeitslosenrate genauso hoch wäre wie in Europa, wenn die US-Regierung nach europäischen Kriterien zählen würde.

Die Hauptstoßrichtung der deutschen Arbeitgeber bleiben die hohen Lohnnebenkosten. Vor allem dadurch koste eine Arbeitsstunde in England halb soviel wie in Deutschland. Müssen die Deutschen wirklich mehr arbeiten bei weniger Absicherung?

Seit 1975 steigen bei uns gemessen am Bruttoinlandsprodukt hauptsächlich die Sozialversicherungsbeiträge. Die Verbrauchssteuern blieben bis zur Wiedervereinigung etwa gleich, stiegen danach leicht an. Das Steueraufkommen aus unternehmerischer Tätigkeit sinkt jedoch seit zwei Jahrzehnten. Die Unternehmen zahlen bei uns unter dem Strich weniger als in den USA oder Großbritannien. Auch die Vermögenssteuer liegt unter der der USA.

Gerade die hohen deutschen Steuern vertreiben doch angeblich Unternehmen und Wohlhabende?

Nach den Daten der OECD liegt das Aufkommen aus der Besteuerung von Unternehmen in Deutschland bei 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In Großbritannien bei 2,4, im Schnitt der EU sogar bei 2,8 Prozent. Und die „taxes on property“, also Steuern auf Vermögen samt Immobilien, sind bezogen auf das BIP auf der britischen Insel sogar mehr als dreimal so hoch wie bei uns.

Selbst wenn die Arbeitsplätze nicht wegen hoher Steuern abwandern, so gehen doch viele verloren. Das untere Drittel der Arbeitsgesellschaft fällt also durch High- Tech- und Liberalisierungsmodelle durch den Wohlstandsrost?

Eine Lösungsmöglichkeit ist der Umbau des Sozialstaates. Das heißt zunächst verstärkte Investitionen in Bildung und Ausbildung. Desweiteren ein Grundeinkommen mit einer negativen Einkommensteuer für die Beschäftigten mit sehr niedrigem Lohn und ungesicherten Arbeitsverhältnissen. Und es müssen auf europäischer Ebene Mindeststandards beim Arbeitsrecht und den Sozialleistungen eingeführt werden. Ähnlich war es in den USA der 30er Jahre: Die unterschiedlichen Sozialleistungssysteme in den einzelnen Bundesstaaten führten zu einem ruinösen Binnenwettbewerb. Ein Bestandteil des „New Deal“ von Präsident Roosevelt war die Einführung von sozialen Mindeststandards auf Bundesebene. Interview: Reiner Metzger