Ein Präsident zimmert sich seinen Staat

Der weißrussische Staatschef Lukaschenko will sich durch ein Verfassungsreferendum unbegrenzte Macht sichern. Tausende demonstrieren. Alle Parteien fordern seine Amtsenthebung  ■ Aus Minsk Barbara Oertel

„Warum wir hier in der Stadt keine Abfallbehälter mehr auf öffentlichen Plätzen haben, ist doch klar: Die hat Lukaschenko abnehmen lassen, weil er Angst vor Bomben hat“, sagt Pawel Karnasitzki, ein junger Journalist aus der Hauptstadt Minsk. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko, der sich in den staatlichen Medien wie der Sowjetskaja Belorussja (Sowjetisches Weißrußland) als beliebtester und fähigster Politiker seines Landes feiern läßt, könnte mit seiner Befürchtung gar nicht so falsch liegen.

Am Montag vergangener Woche demonstrierten in Minsk erneut mehrere tausend Menschen gegen den Staatschef und forderten dessen Ablösung. Der Grund: Eine geplante Verfassungsänderung, mit der Lukaschenko die anderen Staatsorgane kaltstellen und das Präsidentenamt mit nahezu unbegrenzten Vollmachten ausstatten will.

Dem Vorschlag zufolge soll der Oberste Sowjet durch ein weitgehend entmachtetes Zweikammerparlament ersetzt werden. Ein Drittel der Abgeordneten der zweiten Kammer, des Senats, ernennt der Präsident. Auch den Vorsitzenden und fünf weitere von zwölf Mitgliedern des Verfassungsgerichts will sich Lukaschenko künftig selbst aussuchen. Immerhin hatte sich das Gericht in der Vergangenheit erdreistet, 16 Verordnungen des Präsidenten als verfassungswidrig zurückzuweisen. Worüber sich Lukaschenko kurzerhand durch neue Verordnungen hinwegsetzte. Aller Voraussicht nach sollen die Untertanen am 7. November über das Projekt in einem Volksentscheid abstimmen dürfen.

Doch die Proteste gegen Lukaschenko beschränken sich keineswegs nur auf die Straße. Wenige Tage vor der Minsker Montagsdemonstration hatte der „Runde Tisch“ – ein Gremium, dem mittlerweile Vertreter von 16 Organisationen und politischen Parteien einschließlich der Kommunisten angehören, eine Erklärung verabschiedet. Darin heißt es: „Die Tätigkeit des Präsidenten hat schon seit langem die Grenzen der Verfassung überschritten. Wenn diese Politik weitergeführt wird, kann das zur Errichtung eines totalitären Regimes führen. Sollte der Präsident seine verfassungswidrigen Verordnungen nicht bis zum 15. September zurücknehmen, werden sich die Mitglieder des Runden Tisches mit einem Aufruf an den Obersten Sowjet wenden, ein Amtsenthebungsverfahrung gegen den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko einzuleiten.“

Die Reaktion kam prompt. Einen Tag nach Veröffentlichung der Erklärung tauchte plötzlich ein angebliches Schreiben des amerikanischen Geheimdienst aus Polen an den Parlamentspräsidenten, Sjamen Schareztki, auf. Danach soll Scharetzki zwei Millionen Dollar erhalten haben, um das Referendum zu vereiteln. Der Parlamentspräsident, der seit langem vor der Errichtung einer Diktatur warnt und mit zu den Unterzeichnern der Erklärung des Runden Tisches gehört, kommentierte den Vorfall sichtlich erregt in einem Fernsehinterview: „In welchen Land ist es möglich, daß so mit einem Parlamentspräsidenten umgegangen wird? Heute hat die Provokation nun auch gegen mich begonnen.“

Provoziert fühlte sich aber nicht nur der Parlamentspräsident. Wenige Tage vorher hatten in Minsk Tausende von Kleinhändlern gestreikt – die elf Märkte blieben leer. Laut Beschluß der Minsker Stadtverwaltung sollen die Händler, statt wie bisher 12 Prozent ihres Gewinns, 100 Dollar monatlich als Standgebühr zahlen. Und das auch noch rückwirkend vom 1. Juli an.

Anfang vergangener Woche ging im nichtstaatlichen Sender 101,2 das Licht aus. Auf Anweisung der Regierung war mal eben die Frequenz gesperrt worden. Kurz darauf mußten acht unabhängige Zeitungen, darunter die Belorusskaja Delovaja Gazeta (Weißrussische Geschäftszeitung), ihr Erscheinen einstellen. Den oppositionellen Blättern, die ohnehin schon alle in Polen und Litauen gedruckt werden, waren auf Anweisung von Lukaschenko die Konten eingefroren worden.

Anatoli Titkow, Besitzer eines kleinen Betriebes, sieht Schlimmes auf Weißrußland zukommen. Unlängst hatte er bei einem Besuch des Präsidenten in Slutsk, 120 Kilometer von Minsk entfernt, Lukaschenko dazu aufgefordert, die Zuhörer genauer über die geplante Volksabstimmung zu informieren. Kaum, daß er diese Frage gestellt hatte, führten ihn zwei Herren ab. Er solle nicht das Volk dabei stören, seinem Präsidenten zuzuhören. „Wir steuern geradewegs auf ein totalitäres Regime zu. Das wird noch schrecklicher als früher sein. Und das Schlimmste daran ist, daß die meisten Menschen nicht verstehen, was hier wirklich vorgeht. Lukaschenko wird mit seinem Referendum durchkommen.“

Über drei weitere Fragen will der Präsident das Volk im November noch abstimmen lassen: Über die Verlegung des Nationalfeiertages, die Freigabe des Grunderwerbs und die Abschaffung der Todesstrafe. Lukaschenko, der sein Volk zwar für mündig genug hält, ihm einen Freibrief auszustellen, ansonsten aber meint, bei der Meinungsbildung behilflich sein zu müssen, gab auch gleich eine Empfehlung: Er forderte die Weißrussen dazu auf, gegen die zweite und dritte Frage zu stimmen.