Hitlerjunge Mazerath

Vom Trümmerfilm zum Camp: Das deutsche Kino und seine Nazis – heute startet „Der Unhold“  ■ Von Mariam Niroumand

Man glaubt es kaum, aber in den siebziger Jahren war der deutsche Film Gegenstand regelrechter Glaubenskriege. Als eine Erbschaft des gescheiterten Oberhausener Manifests von 1962 und seiner Emphase für ein meinungsstarkes, engagiertes und vor allem konventionsfreies Kino, verlangte das Programmkino-Publikum der siebziger Jahre vor allem, eigene Erfahrungen im Kino wiederzufinden. Während Alexander Kluge, Wim Wenders oder das aufkommende „Minderheitenkino“ der Frauen und der Schwulen mit dieser Forderung irgendwie leben konnten, fiel Volker Schlöndorff mit seinen Literaturverfilmungen mehr oder weniger klassischer Stoffe – von „Der junge Törless“, „Michael Kohlhaas“, „Baal“, „Georginas Gründe“ oder „Die Blechtrommel“ – natürlich in Ungnade. Der Oscar für die „Blechtrommel“ – der einzige, den je ein deutscher Film bekam – wird seine Lage nicht verbessert haben. Als Schlöndorff nun androhte, er werde sich mit seiner Verfilmung von Michel Tourniers „Der Erlkönig“ seiner eigenen Erfahrung mit der Faszination des Faschismus widmen, horchte man deshalb auf. Schlöndorff unplugged?

Das deutsche Kino mußte sich mühsam genug an das Thema heranrobben. Die ersten Filme – „Die Mörder sind unter uns“ (1946), „Irgendwo in Berlin“ (1946) oder „Die Affaire Blum“ (1948) – waren deutlich geborgte Erfahrungen, entstanden unter alliierter Kontrolle, die in fatalistischer Stimmung und mit den Mitteln des Film noir Geschichten von gewöhnlichen Leuten erzählten, die durch Habsucht und Feigheit in etwas verwickelt worden waren, das sie dann schließlich selbst verschlang. Das Thriller-Genre ließ die Naziherrschaft als Verschwörung erscheinen, die im nachhinein von einem omnipräsenten Weltgeist aufgedeckt wird. Im Trümmerfilm, der seine Mittel auch vom italienischen Neorealismus, vor allem Rossellinis „Rom, offene Stadt“ lieh, erschienen die Nazis als eine Clique aus der Unterwelt, die von ihrer eigenen Dekadenz und ihrer psychischen oder sexuellen Devianz begraben wurden. Schon der Titel „Die Mörder sind unter uns“ bot Entlastung durch das klassische Kinderschema von Himmel und Hölle; über Tage war man im Grunde anständig geblieben. Von „Draußen vor der Tür“ näherte sich ein einfacher Wehrmachtssoldat, einsam, verlassen und zurückgestoßen; dabei trug er einen Malernamen: Beckmann.

Sieht man von dem außerordentlich lustigen Wolfgang-Neuss- Vehikel „Wir Wunderkinder“ (1958) und der verschnupften Antwort darauf von Jean-Marie Straub in „Nicht versöhnt“ (1963) ab, brauchte es die siebziger Jahre, um dem Thema wieder näher zu kommen. Dann aber ganz nah: Zeitgleich entdecken die verschiedensten Leute an den unterschiedlichsten Orten – von Susan Sontag in New York über Lucino Visconti in Rom, Louis Malle in Paris oder Bob Fosse in Hollywood bis zu Rainer Werner Fassbinder in München –, daß das Thema sexy ist: Vorstellungen von Genet, Bataille, Sadomasochismus und Nazi- Paraphernalien fügten sich in immer neue, lederglänzende Arrangements. Bei Rossellini hatte es zwar nur so gewimmelt von Nazis, die Lesben, Schwule und Kokainisten waren, aber sie hatten immer ordentlichen Heterosexuellen oder sogar Priestern als Widerstandskämpfern und Opfern gegenübergestanden. Im „Nachtportier“ von Liliana Cavani hingegen haben Täter und Opfer ein Verhältnis, das notwendig in den Liebestod führt.

Sieht man von Fassbinder und Syberberg einmal ab, vertrug sich dieser Zugang aber nicht mit der hierzulande herrschenden Vorstellung von Trauerarbeit und mit „Erfahrung“ wohl auch nicht so recht. Statt dessen war „Deutschland im Herbst“ (1978) erstmalig das, was man so „schonungslos“ nennt: eine Geschichte von Vätern und Söhnen, die auch den eigenen militanten Aktionen nur noch den Status von hilflosen Reaktionen einräumt. In Kluges „Patriotin“ (1979) war dann schon wieder die traumatische Erfahrung nicht der Holocaust oder die Naziherrschaft, sondern das, was Kluge unter „Stalingrad“ versteht: die letzten Kriegsjahre, die Zeit der Vertreibung, der Flüchtlingsströme, der zersplitterten Armeen, der bombardierten Städte. Die Stadt ist es auch, die in Edgar Reitz „Heimat“ den Hort alles Bösen, der Naziherrschaft, der Kriegstreiberei und später der Studentenbewegung abgibt; der kleine Ort im Hunsrück und seine Bewohner hingegen leben und fühlen antizyklisch zu den Zeitläuften.

Abel Tiffauges, der Held aus Tourniers Roman, in Volker Schlöndorfs „Unhold“ gespielt von John Malkovich, ist ihnen darin durchaus verwandt. Wie alle Freaks des deutschen Films – Oskar Mazerath, Kaspar Hauser oder die Zwerge, die auch einmal klein angefangen haben – will er nicht mit den Zeitläuften wachsen. Er schaut nur mal herein, durch die gleiche Nickelbrille übrigens, mit der Beckmann unter seiner Gasmaske von „Draußen vor der Tür“ hereinsah. Seine elternlose Jugend verbringt er, der denselben Namen trägt wie die Burg, auf der der grausame Gilles de Rais seine Kinder hielt, auf einem französischen Internat, als Törless: Ein Größerer zwingt ihn, seine Wunden auszulecken. Später wird er Automechaniker, in Paris.

Zu den Nazis, denen er zunächst als Kriegsgefangener in die Hände fällt, zieht auch ihn eine sexuelle Faszination; sie gilt den Kindern, die er aber, wie der Heilige Christopherus, einfach immer nur tragen will: ob in den Krieg hinein, wie die Dorfjungens aus der Umgebung der Kaltenborner Napola, oder aus dem Krieg hinaus, wie das jüdische Kind, das er zum Schluß im Schnee findet. Was er tut, verändert ihn nicht, was die Geschichte tut, auch nicht. In ewigen Kreisbewegungen verleibt sich der Mythos alles ein, was die Geschichte ihm vorsetzt: Orte, Personen, Zeitabläufe. Jeder Name, jedes Tier, jedes Feuer hat Bedeutung. Alles hat einen Touch, eine Art säkularer Kunst-Pantheismus. Als ein Junge bei seinem ersten Manöver von einer Rückstoßflamme aus einer Panzerfaust enthauptet wird, heißt es im Roman: „Ich konnte mich nicht vor dem ersten Tagesschimmer losreißen vom Anblick des mageren Körpers, der auf dem Leintuch lag, als wäre er mit Tusche darauf gezeichnet, ein Gefüge von Knochen, da und dort mit geballten Muskeln behängt, die als runde Wülste vorsprangen wie Mistelknoten in den kahlen Ästen eines Baumes. Gibt das seltsame Bild deutlich genug das Gefühl wieder, daß in dieser hauptlosen Hülle nichts Menschliches mehr war? Nichts Menschliches mehr – das heißt: nichts mehr, was an das geschäftige Treiben der Erwachsenen anknüpft. Hellmut von Bibersee war nicht mehr Hellmut und nicht mehr von irgendwoher. Hier war der Inbegriff eines Wesens, das wie ein Meteorstein vom Himmel gefallen und bestimmt war, in der Erde aufzugehen.“ Schlöndorff hat sich keinerlei Freiheiten mit dem Roman erlaubt, und so ist alles illustriert, sogar ein Blick in kahle Äste, die sich anthropomorph aufwölben und ineinanderschlingen wie Mistelknoten. Ist von einem Elch die Rede, schaut im Film einer zur Hüttentür herein. Schlöndorffs Göring (gespielt von Volker Spengler, Fassbinders erster Filmtunte) führt Löwen spazieren, brüllt, wühlt zur Beruhigung in glitzernden Juwelen.

Als sei all dies nicht ohnehin schon von entwaffnender Harmlosigkeit, weit entfernt davon, der gefährliche Dammbruch zu sein, als der „Der Unhold“ im Freitag dargestellt wird, hat Schlöndorff auch noch zahllose zusätzliche Airbags eingebaut. Armin Mueller-Stahl darf als Widerstandsgeneral einige Worte zur Verführung durch Kultur sagen („es sind die Lieder, die einen gefangennehmen“), Marianne Sägebrecht flüstert Tiffauges bei einer langen Wacht über dem Schlafsaal zu: „Ich habe sie gesehen, im Mondschein, sie sehen aus wie lebende Leichen. Es gab Lager, im ganzen Land!“

Gedreht mit 18 Millionen Mark Fördergeldern, dem höchsten Budget, das Schlöndorff je zur Verfügung stand, und zwar teilweise in Babelsberg – dem Ort also, wo Ufa, Defa und Hollywood sich kreuzten – ist „Der Unhold“ zwischen allen Stühlen gelandet. Die persönliche Erfahrung, vor der Schlöndorff gewarnt hatte, ist hinter der literarischen Prätention von Tournier verschwunden; dessen Mythen und Grübeleien werden aber wiederum durch Geschichtslektionen entwaffnet, die ihrerseits wieder dem Ganzen die Ästhetik eines arte-Themenabends geben.

Für diese seltsame Verknotung gibt es wahrscheinlich gute Gründe: Die Erfahrung der Täter ohne Soziologie oder sonst eine apologetische Strategie wie Camp, sexuelle Deviation oder Wahnsinn präsentieren zu wollen braucht wahrscheinlich den Goldhagen- Zugriff. Eine Szene wie die aus Spielbergs „Schindlers Liste“, in der Amnon Goeth nach einer Liebesnacht im wohligen Räkeln des Körpers auf zufällig im Weg stehende Häftlinge unter seinem Balkon schießt, kann ein deutscher Filmemacher wahrscheinlich noch lange nicht drehen. Ihm dann auch noch einen Nazi wie Schindler gegenüberzustellen, der zufällig nicht so funktioniert, und gerade in diesem Zufälligen das Systemische herauszupräparieren – vielleicht kann Romuald Kamarkar mal so einen Film machen.