Digitale Naturkunde

■ Kathedrale der Information: Die Ars Electronica in Linz hat sich von der Probebühne zum digitalen Museum gewandelt

Der Transit zwischen Berlin und Linz durch die postsozialistische Tschechische Republik zeigt sich dem Betrachter als längster Straßenstrich Mitteleuropas: „Nonstop Extaze Club“ steht auf einem Schild. Während man hier daran erinnert wird, daß der Körper noch immer als Kapital erscheint, konfrontiert die oberösterreichische Industriestadt Linz mit der 1979 ins Leben gerufenen Ars Electronica den Besucher mit einer Zukunft, in der „der Umgang mit digitalen Technologien den Schritt von der Kulturtechnik zur neuen ,Natur‘ macht“.

„Memesis – Die Zukunft der Evolution“ lautete das zentrale Thema des Festivals in diesem Jahr. Nach Jahren, in denen die Debatten um die „digitale Revolution“ von technologiefixierten Medientheorien dominiert schienen – gerade auf den letzten, noch von Peter Weibel geleiteten Festivals –, meldeten sich jetzt auch soziale und politische Begehrlichkeiten in dem von Geert Lovink moderierten Symposium lautstark zurück.

Das Kunstwort Memesis verbindet die Idee der Meme, bereits 1976 von dem Biologen Richard Dawkins formuliert, mit dem Konzept der Genesis. Mit dem Mem postulierte Dawkins ein Äquivalent des Gens als kleinste kulturelle Einheit, deren einziges Interesse in der Selbstreplikation liege. Der Archetyp eines Mems sei der Kettenbrief und die katholische Kirche etwa eine der DNS vergleichbare Kolonie sich selbst reproduzierender Glaubenssätze. Mit den globalen Netzen hätten die Meme nun ein vortreffliches Ökosystem gefunden.

Derart biologistische Modelle gesellschaftlichen Wandels interpretiert der britische Sozialwissenschaftler Richard Barbrook als reaktionäre Mythologien. Der im Umfeld diverser Cybertheorien wachsende neue Sozialdarwinismus ignoriere die Existenz des Internets als Ergebnis menschlicher Arbeit und Subjektivität in einer „mixed economy“ aus Kapitalismus, staatlichen Investitionen und Hackeraktivitäten. Somit paktiere ein Teil der Netzphilosophie bemerkenswert unbekümmert mit neoliberaler Politik. Die Eröffnungsdebatte zwischen Dawkins und Barbrook setzte sich am nächsten Tag auf den Wissenschaftsseiten des Wiener Standard und im folgenden auch auf dem Festival fort.

Selbst die interaktiven Arbeiten des Festivals spiegelten die Kluft zwischen den unterschiedlichen Modellen von Gesellschaft, Natur und Technologie. Der australische Künstler Simon Penny versucht, den Einsatz von Technologie um ihrer selbst willen mit der Benutzung billiger, alltäglicher Bausteine in seinen Robotern und seinen als Netzen angelegten Rhythmusgeneratoren zu umgehen, und kritisierte auf dem Panel die landläufigen Modelle des Cyberspace als uralten Platonismus. Penny war nicht der einzige, der in seiner Arbeit die Vorstellung von „dieser neuen Hacker-/Künstlergeneration“ mit ihrem „konsequenten Einsatz am Gerät selbst“ ablehnte, die der neue Leiter von Festival und Center, Gerfried Stocker, festzumachen versuchte.

Mit dem zeitgleich zum Festival eröffneten und zentral an der Donaubrücke gelegenen Ars Electronica Center hat sich die Stadt über die jährliche Leistungsschau medialer Kunst hinaus ein „Museum der Zukunft“ 180 Millionen Schilling kosten lassen. Als „Ressource für die anstehende Gestaltung und Akkulturation der neuen medialen Lebensräume“, wie Stocker formulierte. Allerdings wird man schon am Eingang mit aktueller Sicherheitstechnologie konfrontiert: Nur mit einer an der Kasse ausgehändigten Magnetkarte können die neuen Lebensräume via Drehkreuz betreten werden.

Erwartungsgemäß kann auf sechs Stockwerken dann der State of the Art digitaler Technologie bewundert werden, darunter der kryptagleiche CAVE. In einem klimatisierten Glasschrein stehen mit Silicon-Graphics-Rechnern hochwertige Maschinen, deren Arbeitsergebnisse jedem Kinogänger in Form handelsüblicher Special Effects bekannt sein dürften und die hier noch einmal spektakuläre 3D-Räume simulieren. Das Museum der Zukunft also als High- Tech-Version des guten alten Naturkundemuseums?

Gänzlich unspektakulär am Rande des musikalischen Beiprogramms angesiedelt, legte mit Dorfmeister, Pulsinger und Tunakan die Wiener Techno-Schule Platten auf und bestätigte wieder einmal, daß die Clubkultur einer der wenigen utopischen Orte bleibt, an dem sich Produkte der Elektrotechnik und soziale Interaktion wenigstens für kurze Augenblicke der Ekstase treffen.

Daß auch das „Read Only Memory“ einer CD als soziales Gedächtnis funktionieren kann, demonstrierte schließlich „Rehearsal of Memory“ des Briten Harwood, der mit einer Gruppe von Insassen des Ashworth Maximum Security Hospitals gearbeitet hat. Das Hospital beherbergt Menschen, die als unzurechnungsfähige Kriminelle oder Kranke eingewiesen wurden. Die gemeinsam (re-)konstruierten Lebensgeschichten erzählen vor allem vom gesellschaftlichen Gedächtnisverlust bezüglich „Wahnsinn“ und „Anormalität“. Kommentar der Jury: „Schon lange haben wir unsere Schmutzwäsche den Maschinen übergeben, während wir die Vorstellung eines weißen, emaillierten Äußeren aufrechterhalten haben. Nun ist die Zeit des Drecks gekommen.“ Ulrich Gutmaier

Das Ars Electronica Center wird am 16.10. als Museum eröffnet; der Katalog: „Memesis – the future of evolution“, Springer Verlag Wien, kostet ca. 80 DM