Atemraubende Laufmaschine

■ Fahrraddraisinen, der Tip für Bahnnostalgiker, machen in Schweden Karriere

Die ersten zwei Kilometer sind atemberaubend – für die Lunge. Es heißt treten, treten – und immer nach vorn sehen. Kommt da vielleicht jemand angerast, dem das Wort „Vorsicht“ ein Zeichen von Feigheit ist? Wir sitzen auf einer Fahrraddraisine – einer muß treten, einer darf, daneben sitzend, genießen. Wir schieben uns die rostigen Schienen Stück für Stück nach oben, rechts eine Felswand nach oben, links ein zunehmend steiler werdender Abhang. Dann, eine steile Schlucht zur rechten Seite, darin ein schöner Wasserlauf... Nun wird es auch atemberaubend für die Augen.

Draisinefahren in Schweden – nirgendwo gibt es längere, landschaftlich reizvollere Strecken als in dem skandinavischen Land. Zwar gibt es seit einem Jahr auch eine kurze Strecke in Belgien (eine kleinere gab es in Brandenburg), aber wer wirklich eisenbahnnostalgisch ist, fährt nach Schweden.

Die Nordländer haben aus einer vermeintlichen Verlegenheit eine regelrechte Draisinenkultur entwickelt, acht Strecken mit bis zu 90 Kilometern Länge sind vorhanden. Bei letzterer handelt es sich um ein stillgelegtes Stück der legendären Inlandsbahn. Wer annimmt, daß es sich bei den Draisinen um Geräte aus Westernfilmen handelt, der irrt. Wer mit den Händen eine Stange auf und nieder stemmen will, der muß schon in ein Sportstudio gehen. Die Draisinen haben eine ganz andere Vorgeschichte – die in Deutschland begann. Ein gewisser Herr Karl Freiherr Drais von Sauerbronn (1785 bis 1851) erfand damals das Rad neu; ganz schnell ließ er sich die Erfindung patentieren. Der badische Forstmeister hatte schon 1813 einen vierrädrigen Wagen kreiert, dem er 1817 das Zweirad folgen ließ. Diese „Laufmaschine“ mit Lenkstange gilt als der Vorläufer des Fahrrads – und nichts anderes ist die heutige Draisine eigentlich. Ein Wiener namens Bernhard setzte das Fahrrad 1838 auf die Schiene – und diese einfache Idee wurde später bei zahlreichen Bahngesellschaften als Fahrzeug für die Wartungsarbeiter populär. Die Ironie der Geschichte: Während das Fahrrad heute Fahrrad heißt, nennen wir die Eisenbahnfahrräder eben Draisine.

Die Draisinen sind in Schweden heute so populär, weil dort auf das große Streckenstillegungsprogramm der Bahngesellschaft „SJ“ mit viel mehr Kreativität reagiert wurde. In Bengtfors haben die örtlichen Tourismusmanager die Marktlücke erkannt und die 52 Kilometer lange Strecke in ein touristisches Konzept integriert: eine Richtung mit der Draisine, zurück mit dem Kanu. Die Landschaft mit Bergen, Felsen, Wasser, Auf- und Abfahrten ist interessant, für die 52 Kilometer sollte man bis zu zehn Stunden einrechnen. Unterwegs kann auf Campingplätzen gezeltet werden oder, wie in Schweden nach dem „Jedermannsrecht“ üblich, in der freien Natur. Hier sind die Draisinen Neuanfertigungen.

Die Tagesmiete schwankt je nach Strecke zwischen 120 bis 200 Kronen am Tag. Tandemausführungen sind teurer. Platz ist für zwei Personen, im begrenzten Umfang kann Gepäck mitgenommen werden.

Wichtigste Regel: Sei höflich zu entgegenkommenden Fahrzeugen, denn die meisten Strecken sind eingleisig. Die Draisinen sind aber nicht so schwer, so daß ein Mensch sie mal kurz vom Gleis heben kann. Bei Stephan Ewalds, „Draisinen-Nebenberuf-Unternehmer“, im südschwedischen Ort Tomelilla, ist es kein großes touristisches Konzept, sondern eine Art aus der Hand gelaufenes Hobby: „Immer, wenn irgendwo in der Gegend eine Strecke stillgelegt wurde, haben wir uns die Draisinen besorgt.“ Das heißt: Seine Draisinen sind echte museale Stücke. Seine knapp 20 Kilometer lange Strecke führt durch eine herrliche schwedische Sommerlandschaft – wie sie Millionen Kinder aus schwedischen Kinderbüchern kennen: mit Blümchen und Kühen am Rande der Gleiskörper. Der 38jährige steht tagsüber in seinem Geschäft, wo er Kinderbekleidung verkauft, morgens und nachmittags kommt er auf Vereinbarung raus zu seiner Strecke und gibt die Draisinen aus. „Ich will damit nicht reich werden, es macht mir einfach Spaß.“

Das macht es auch den Touristen. Zahlreiche Gemeinden präsentieren ihre Draisinen mittlerweile in den Katalogen. Immer mehr Gäste Schwedens lassen es sich nicht nehmen, kreuz und quer durch Schweden zu reisen und die Strecken nach und nach einzeln abzufahren. Es sieht so aus, als ob darin auch für einige ostdeutsche Bundesländer eine Chance liegen könnte. In Mecklenburg werden schließlich gerade in großem Stil Strecken stillgelegt – und die Landschaft mit den sanften Hügeln, all dem Wasser und den vielen Feldern ähnelt der in Schweden. Falk Madeja

Einige Strecken:

Vadstena–Aska 10 km (Östergötland), Tourist Information Vadstena, Tel. (0046-143)10302

Bengtsfors–Ärjang 52 km (Dalsland), Tel.: (0046-531) 10285 oder (0046-573) 14136. Hier können auch Kanutouren für den Rückweg gebucht werden!

Ängelholm–Vegholm 4 Km (Skåne), Tel. (0046-431)75911

Persberg–Tretjärn 90 km (Inlandsbanan, Värmland/Dalarna), Tel.: (0046-281) 24018

Tomilla–Röddinge 19 km (Skåne), Tel. Familie Ewald: (0046-417) 10252

Gullspang–Torved 20 km (Västergötland), Tel.: (0046-551)-20021 0der 0046-501-10001

Edsbyn–Furudal 49 km (Helsingland–Dalarna), keine Touristeninformation

Foto: Falk Madeja