Im Stahlbad des Fun

Wer die Sixties nicht erlebt hat, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen: Oliver Stone, meistgehaßter Regisseur, der seinen 21. Geburtstag als Soldat auf dem Flug nach Vietnam verbrachte, wird heute fünfzig Jahre alt  ■ Von Mariam Niroumand

Obwohl der Vietnamkrieg schon fast eine Generation zurückliegt, fühlt er sich für viele Amerikaner noch immer an wie der Mord, den ein Zweijähriger beobachtet hat. Noch immer ist nicht in allen Einzelheiten klar, was überhaupt passiert ist; noch immer hat man sich nicht auf eine nationale Erzählung einigen können, noch immer gibt es kein stolzes Symbol wie das „Remember the Alamo“ zur Erinnerung an den texanischen Unabhängigkeitskampf. Eigentlich gibt es nur eine Mauer in Washington, von der man die Namen der Gefallenen abpausen kann.

Aber Filme gibt es. Manche tröstlich, manche prätentiös; einige wütend, andere sentimental – die besten – „23rd Psalm Beach“, „Apocalypse Now“ und „Platoon“ – sind von allem ein bißchen zuviel.

Mit dem Chris aus „Platoon“ hat Oliver Stone seine eigene Geschichte erzählt. Heute wird er fünfzig Jahre alt. Er glaubt selbst, daß er auch in „Salvador“, „Wall Street“, „Talk Radio“, „The Doors“, „Natural Born Killers“ oder „Nixon“ immer wieder neue Schlachtfelder eröffnet hat, daß sie alle irgendwie Vietnam waren. Man hat ihn mit Leni Riefenstahl verglichen, ihn der visuellen Vergewaltigung bezichtigt und schließlich sogar angezeigt: Nachdem zwei Teenager unter Drogen nach dem Genuß des Videos „Natural Born Killers“ auf einem Autotrip durch die Südstaaten wild um sich geschossen hatten, zeigte ihn eines der Opfer, die Kassiererin Patsy Byers, an. Der Prozeß – in den sich auch der Autor John Grisham eingeschaltet hatte mit der Überlegung, Stone habe seinen Film zu verantworten wie jeder Autohersteller fehlerhafte Bremsen – dauert noch an.

Stone ist ein New Yorker Nachkriegskind, das einzige einer Ehe zwischen einem jüdischen Börsenmakler und einer katholischen Immigrantin aus Frankreich, deren Familie so arm war wie die ihres Ehemannes reich. Joshuah Stone alias Silverstein hatte sie als Oberst in Eisenhowers Truppe getroffen, als er in Paris stationiert war. Auch sein französischer Großvater hatte gedient. Als Kind soll er dessen verkrüppelten Fuß befummelt haben wie Pilger eine Reliquie.

Der Familienzusammenhalt entwickelte sich eher locker: Oliver Stone verbrachte seine frühe Kindheit mal in Frankreich (sprach Französisch, bevor er Englisch gelernt hatte) in Ferienlagern oder mit Kindermädchen, denn sein Vater unternahm gern waghalsige Geschäftsreisen nach Südamerika, seine Mutter gab Künstlerpartys.

Seine Mutter beschreibt er als Star, der ab und an glamouröse Auftritte in seinem Leben hatte: „Plötzlich zog etwas Helles durch den Raum, das einen Schweif von Parfüm, Gelächter, Schönheit und Bezauberung hinter sich herzog. Danach wurde es wieder dunkel. In meinen frühesten Sexphantasien sah ich immer riesige Frauen in Bäumen sitzen, im Urwald.“

Ihr Butler, Karlo Stojanac, war als Homosexueller in einem KZ gewesen. Er spielte für ihn Frankenstein, Dracula oder Mumienfilme nach. Stanley Kubrick und David Lean liefen im Kino, „Dr. Seltsam“, aber auch „La Dolce Vita“. Die Parties zu Hause wurden unbändiger, allerdings mit immer weniger Geld; sein Vater, der für die Chose immerhin aufzukommen hatte, nannte die Gäste „Eurotrash“.

Wie im bösen Märchen schickten sie Oliver auf eine Jungsschule ins Stahlbad Pennsylvania, dort erfuhr er dann aus heiterem Himmel, daß seine Eltern sich scheiden ließen, daß seine Mutter längst nach Europa verschwunden war.

Kennedy wurde erschossen. Wenn Stone seinem Biographen James Riordan davon erzählt, klingt es, als sei das Attentat der endgültige Beleg dafür, daß die Generation seiner Eltern versagt hat: „So früh abzutreten! Danach hatte ich überhaupt kein Vertrauen mehr in diese Leute. Ich fühlte mich wie jemand, der jahrelang gefälschte Geschichtsbücher untergejubelt bekommen hatte, ich war ein Produkt verzerrter Wahrheiten. Was ich für ein glückliches Leben gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine fette Lüge.“

Schnell schickte sein Vater ihn nach Yale. Er las „Lord Jim“ von Joseph Conrad, schrieb über Carson McCullers oder Edward Albee. Mit Mädchen konnte er nichts anfangen. Seine Mutter richtete ihm das Zimmer mit Leopardenfell und Schächtelchen ein, „bis es aussah wie ein Boudoir“. Schließlich reichte es ihm. Es kommt der Tag, da will die Säge sägen: Oliver Stone, der sich bis dahin immer William genannt hatte, droppte aus, bewarb sich auf Lehrerstellen und bekam eine in – Saigon.

„Ich hatte die Nase voll von der Zivilisation, wie mein Vater sie kannte – tiefgekühltes Essen, Wirtschaftsstrukturen, die Gesundheit und Hygiene fördern. Ich wollte in die Tropen. Saigon war genau, was ich suchte: Hitze, grünes Wasser, Gestank, blutrote Sonnenuntergänge. Überall Huren. Als ich ankam, war gerade die 1st Infantry Division gelandet und ballerte da in den Straßen herum. Es war wie Dodge City.“ Er unterrichtete Mathematik, Englisch und Geschichte, die wahre Geschichte, und er hatte einen chinesischen Diener. Solides antikommunistisches Milieu, wie auch Stone selbst Roosevelt für den Anfang vom Ende hielt. Er versuchte sich auch als Reporter, aber die einzige Geschichte, die er jemals loswurde, war die seiner wundersamen Rettung durch eine Prostituierte, die ihn vor den Vietcong versteckte. Sie wurde zwar gekauft, aber in die dritte Person umgeschrieben. Er wurde Soldat.

Die Nacht zu seinem 21. Geburtstag ging auf dem Flug verloren. Am 16. September 1967 landeten sie in Vietnam, mit einer inzwischen auf 500.000 Mann angeschwollenen Truppe. Ganz wie in „Platoon“ war er mit seiner Truppe nahe der kambodschanischen Grenze stationiert. Er war der einzige in seiner Truppe mit einer College-Ausbildung. Es gab ohnehin nicht viel Loyalität, aber einem wie ihm, der so dämlich war, sich freiwillig zu melden, zeigte natürlich erst recht niemand was. Schon in seiner zweiten Nacht wurden sie angegriffen: „Das war nicht wie in John-Wayne-Filmen, schön übersichtlich. Wir waren schon aufgelöst von der Hitze und den Moskitos und daß man nie schlafen durfte. Ich glaube, ich habe ein Jahr nicht geschlafen. Es herrschte ein wahnsinniges Chaos, alle schossen vor sich hin, wir sahen ja nichts. Meine erste Verwundung stammte wohl aus einer amerikanischen Granate.“ Mit der Zeit bröckelten nicht nur seine patriotischen Glaubensgrundsätze. „Eines Tages fand ich in einem dieser Bunker, die die Gooks sich anlegten, einen alten Mann. Er wollte nicht rauskommen, und er wollte nicht aufhören zu lächeln. Er machte mich rasend. Ich brachte ihn zum Tanzen. Ich wollte ihn so ängstigen, daß er daran stirbt.“ Er schlug sich auf die Seite der Kiffer, der Schwarzen, der Städter – gegen die Patrioten, die Landeier. Er fing an, Fotos zu machen. Mit einer Tapferkeitsauszeichnung und drei Verwundungen entließ man ihn im November 1968. Die Sixties, von denen alle noch ganz benebelt waren, lernte er erst in Filmen kennen – seinen eigenen.