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Im Gaza-Streifen herrscht Stillstand

Seit der israelischen Abriegelung ist der Grenzübergang verwaist. Der wirtschaftliche Austausch fällt weg. Noch sprechen sich viele Palastinenser für den Frieden aus – aber einen gerechten  ■ Aus Gaza Antje Bauer

Der Grenzübergang Eres von Israel zum Gaza-Streifen ist menschenleer. „Presse?“ fragen israelische Soldaten, die sich inmitten der Betonlandschaft langweilen. Die Frage kommt nicht von ungefähr: Seit sich im vergangenen Februar und März in Tel Aviv und Jerusalem vier palästinensische Selbstmordattentäter in die Luft gejagt und dabei fast sechzig Israelis getötet haben, sind das Westjordanland und der Gaza-Streifen fast ununterbrochen abgeriegelt. Nur Journalisten und Diplomaten können an solchen Tagen die Grenze passieren.

An den Ausläufern von Gaza- Stadt stehen neue Wohnblöcke, fast bezugsfertig, aber doch noch nicht ganz. Überall sieht man Anzeichen dafür, daß auf eine lange Zeit der Vernachlässigung eine kurze Periode des Enthusiasmus und des Aufbaus gefolgt war. Nun herrscht wieder Stillstand. Die Omar-al-Muhtar-Straße, die Hauptschlagader von Gaza-Stadt, ist staubig, voller Schlaglöcher. Kein Baum, kein Strauch, überall liegt Müll herum. An einer Seite sind Häuser abgerissen worden, um die Straße zu erweitern, doch auch diese Arbeiten ruhen nun. In ärmlichen Restaurants klauben Esser Stücke gegrillten Hühnchens vom Fettpapier, vor einem Andenkenlädchen baumeln aufblasbare Arafat-Torsos im Wind.

Aus einem Laden dringt lauter Maschinenlärm: „Bäckerei al- Shanty“ steht draußen auf einem Schild zu lesen. Vor einem Holztisch stehen ein paar Kunden Schlange, dahinter spuckt eine Maschine unablässig Brotfladen aus. 8.000 Tonnen Mehl werden normalerweise jeden Monat von Israel nach Gaza importiert. Doch seit der Abriegelung werden selbst Hilfslieferungen ausländischer Organisationen nur selten von den israelischen Soldaten durchgelassen: Aushungerung einer Stadt. Gelegentlich mußte die palästinensische Autonomiebehörde deshalb schon auf die Notreserven zurückgreifen. Einige Tage zuvor haben jedoch einige Lastwagen mit Mehl die ägyptische Grenze passieren können. Bei al-Shanty stapeln sich mehrere Dutzend Säcke an der Wand, und nun kommen auch die, die normalerweise das Brot selbst backen, und kaufen hier ein.

Sonst sind in dieser Stadt keine Schlangen zu sehen. In den Obstläden der Omar-al-Muhtar-Straße liegen Orangen und Erdbeeren, Erbsen und knallrote Tomaten aus — doch nur wenige Kunden finden sich ein. Auf einem kleinen Markt stehen die Verkäufer von billigen Nagellacken, Plastikschuhen und imitierten italienischen Jeans unter Zeltplanen an ihre hölzernen Stände gelehnt und schlagen bei einem Schwätzchen die Zeit tot. Frauen in langen schwarzen Gewändern ziehen kleine Kinder hinter sich her, in der anderen Hand eine Plastikeinkaufstasche. Sie halten hier und da an, befühlen eine Ware, wenden sich wieder ab. Auf die Frage, ob er an diesem Tag schon etwas verkauft habe, lächelt der junge Hosenverkäufer Adnan Ayyad verlegen. „Nichts“, antwortet er und macht eine abwehrende Handbewegung. „Die Abriegelung ist schrecklich. Manche Leute haben nicht mal ihren Stand aufgemacht, sie bleiben zu Hause. Wie du siehst, ist hier alles leer. Vor der Abriegelung kamen Leute hierher, aber jetzt ist alles tot.“ Die Wirtschaft von Gaza hängt maßgeblich von Israel ab: 22.000 Palästinenser arbeiteten vor dem Beginn der Friedensgespräche in Israel. Obst, Gemüse und Schnittblumen gehen zu 80 Prozent dorthin. Wenn die Grenze abgeriegelt wird, fällt der gesamte wirtschaftliche Austausch flach. Ayyad ist dennoch der Meinung, daß es zum Friedensprozeß keine Alternative gibt. „Wir wollen Frieden“, sagt er, „aber einen gerechten Frieden, nicht so einen wie diesen hier. Aber die Aktionen von Hamas machen nichts besser. Dadurch wird alles nur noch weiter verzögert.“

Ein paar Kilometer stadtauswärts liegt die Stelle, an der der Hafen von Gaza gebaut werden sollte. Die offizielle Einweihung der Baustelle liegt schon lange zurück, doch zu sehen ist nichts. Die ersten Teile des Fundaments seien bei einem Unwetter weggespült worden, heißt es, seither wurde kein Neuanfang mehr gemacht. Ebenso steht es um den Bau des Flughafens von Gaza und um die drei Industrieparks, die an den Grenzen zu Israel entstehen sollen – alles steht still: Weil das Baumaterial fehlt, weil die seit Jahren zugesagten Gelder aus dem Ausland nicht eintreffen, weil die Israelis Sicherheitsbedenken haben. Weil nach der anfänglichen Euphorie des Friedensprozesses alles zum Stillstand gekommen ist. Fast zweieinhalb Milliarden Dollar wurden vom Ausland zugesagt, davon sind nach palästinensischen Angaben nur 680 Millionen eingetroffen. Auch die Investitionen von Auslandspalästinensern sind zurückgegangen: Angesichts der Unsicherheit des Friedensprozesses mag keiner hier sein Geld riskieren.

Nicht weit entfernt von Gaza- Stadt liegt das Flüchtlingslager el- Dschabaliya. Hier hat im Dezember 1987 die Intifada, der palästinensische Aufstand gegen die israelische Besatzung, begonnen. In engen, staubigen Gassen reihen sich kleine, zumeist ebenerdige Häuschen mit Innenhof aneinander. Auf einer Freifläche liegt Hausmüll um einen offenen Container herum, dessen Aufschrift ihn als ein Geschenk der Europäischen Union ausweist. Es stinkt. Im Staub spielen kleine Kinder Fußball, an Häuserwänden lehnen Jugendliche in ausgelatschten Turnschuhen und lassen den Tag vergehen. Was sollen sie auch tun – Arbeit gibt es nicht.

Seit 1948 besteht dieses Flüchtlingslager. 80.000 Menschen wohnen hier auf engstem Raum zusammengepfercht. Die meisten sind bettelarm, und nach fast 50 Jahren leben sie noch immer in einem Provisorium. Auch die Friedensgespräche haben daran nichts geändert. Die Flüchtlingslager sind eines der Themen, die auf die Endphase der Gespräche verschoben worden sind, und wann und mit welchen Aussichten diese stattfinden werden, ist unsicherer denn je. Einige Flüchtlinge haben begonnen, mehrstöckige Häuser im Lager zu bauen, doch die meisten warten ab, was die Gespräche ergeben werden. Wer weiß, ob sie nicht wieder umgesiedelt werden und alles zurücklassen müssen.

In einem Geschäft sitzt der 26jährige Abu Salim an einem abgenutzten Tresen. Die Metallregale an den Wänden sind kümmerlich bestückt: Ein paar Seifenstücke, ein bißchen Waschpulver, ein Päckchen Kaffee, viel mehr hat dieser Laden nicht zu bieten. Die meisten Waren bezieht Abu Salim aus Israel, da die ägyptische Grenze noch Schwierigkeiten mit der Einfuhr macht. Seit der Abriegelung kommen keine Waren mehr herein. Die meiste Zeit wartet er vergeblich auf Kunden.

Auf der Omar-al-Muhtar-Straße wird wieder einmal demonstriert. Nach den Selbstmordanschlägen im Februar und März wurden hier Parolen gegen Gewalt und für den Frieden gerufen. Doch seit der Abriegelung des Gaza- Streifen und dem Stillstand der Friedensgespräche hat sich die Stimmung geändert. „Schluß mit der Abriegelung“ steht auf Transparenten, die über Kühlerhauben von Lastwagen gespannt sind, und: „Abriegelung heißt Hunger. Und Hunger heißt Explosionen.“ Autobusse voller Demonstranten aus dem gesamten Gaza-Streifen verstopfen die Straßen von Gaza.

Rasim Bayari ist der Chef der Gewerkschaft im Gaza-Streifen und führt die Demonstration an, die an diesem Tag vom Stadtzentrum zum Eres-Grenzübergang führen soll. Dort verfaulen seit Tagen Tonnen frischgeschnittener Nelken, da die Israelis den Export nicht zulassen. „Wir haben alles unterstützt, was gut für den Frieden sein könnte. Aber wir wollen nicht, daß unser Volk verhungert. Wir werden ihnen jetzt eine Pause geben, aber wenn sich nichts ändert, werden wir in der nächsten Zeit etwas tun, was sie selbst berührt“, sagt Bayari drohend.

Nicht nur Arbeiter sind zur Demonstration gekommen. Talal Abu Zarifa ist Bauer. Er hat ein eigenes Stück Land, auf dem er Gemüse anbaut. „Früher habe ich ins Westjordanland importiert, jetzt verkaufe ich die 15-Kilo-Kiste Tomaten zu einem Schekel“, klagt er. „Es muß eine politische Lösung gefunden werden für einen gerechten Frieden auf beiden Seiten.“

Nicht alle sind so friedlich. In der Traube, die sich um die Diskutanten bildet, werden auch radikalere Meinungen vertreten. Der 37jährige Arbeiter Nabil Attallah etwa denkt gar nicht daran, für den Frieden und gegen Terror zu demonstrieren. Über die Selbstmordanschläge sagt er lakonisch: „Ich kann das nicht Gewalt nennen. Die organisierte Staatsgewalt gegen uns, das nenne ich Gewalt.“

Die Empörung richtet sich zwar in erster Linie gegen die Israelis, doch auch Arafat gerät zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Rechtsanwalt Radschi Surani war zunächst Direktor des offiziellen „Gaza-Zentrums für Recht und Gesetz“, wurde jedoch im April letzten Jahres entlassen, nachdem er die Menschenrechtsverletzungen der palästinensischen Autonomiebehörde angegriffen hatte. Inzwischen leitet er das unabhängige Palästinensische Menschenrechtszentrum. Was die nächste Zukunft der Palästinenser angeht, so sieht Surani schwarz: „Die Autonomiebehörde ist den Israelis gegenüber Verpflichtungen eingegangen, und die muß sie erfüllen. Und für die Art, wie sie das tut, werden wir in Zukunft den Preis entrichten. Dieser Preis kann ein Bürgerkrieg sein. Das meine ich sehr ernst.“

Surani meint einen Bürgerkrieg zwischen den Anhängern von Arafat und denen radikaler islamischer Gruppen. Zwischen den Verteidigern einer militanten Lösung und den Befürwortern einer Fortsetzung des Friedensprozesses. Auch Haidar Abdel Schafi macht sich deshalb Sorgen. Abdel Schafi war ein früher Kritiker der Osloer Abkommen und ist im Gaza-Streifen hochangesehen: Bei den Wahlen zum palästinensischen Nationalrat Anfang dieses Jahres bekam Abdel Schafi nach Arafat die meisten Wählerstimmen. „Ich wünsche mir, daß die Palästinenser fähig werden, zu einer Einigkeit zu gelangen und auf dieser Basis zu entscheiden, was sie tun wollen“, sagt er in seinem kleinen Dienstzimmer in einer Klinik. „Bevor diese Einigkeit hergestellt ist, ziehe ich es vor, daß die Palästinenser gar nichts tun. Wenn aber aufgrund einer solchen Einigkeit eine erneute Intifada beschlossen würde, dann könnte ich das akzeptieren.“

Beim Verlassen des Gaza-Streifens graben israelische Soldaten mit Gummihandschuhen im Handgepäck, suchen nach Sprengstoffspuren. Eine verfehlt wirkende Handlung am Rande einer Stadt, die sich immer mehr in ein Pulverfaß verwandelt.

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