In der U-Bahn betteln für die Klassenreise

■ Heute ist Weltkindertag: In Berlin sind rund 50.000 Kinder von Sozialhilfe abhängig. Sie bekommen die Armut ihrer Eltern zu spüren

Eine Reise in die Türkei ist für die Konzeption einer deutsch-türkischen Kindertagesstätte eigentlich etwas ganz Selbstverständliches. Die türkischen Kinder können den deutschen Kindern endlich mal „ihr“ Land zeigen, gemeinsam die andere Kultur erforschen – hautnah. Doch diese Art von Pädagogik gilt mittlerweile als Luxus. Zuschüsse gibt es keine mehr. Weder vom Senat, noch vom Bezirk oder vom Träger.

In der deutsch-türkischen Kita der Arbeiterwohlfahrt (AWO) am Tempelhofer Ufer, die eine einwöchige Türkeireise für die Vorschulgruppe anbieten wollte, konnten nur die wenigstens Eltern die Kosten von rund 800 Mark aufbringen. Deshalb haben sich die Eltern, Kinder und Erzieherinnen einen Teil des Geldes „selbst verdient“. Eltern verkauften auf einem Straßenfest nicht nur Kuchen und Kaffee, sondern versteigerten auch ihre Arbeitskraft: zum Beispiel 30 Mark fürs Fensterputzen, 10 Mark fürs Bügeln, 15 Mark für die Reparatur einer Lampe.

Diese ungewöhnliche Kita-Aktion ist mittlerweile kein Einzelfall mehr. Rund 50.000 Kinder leben von Sozialhilfe. Sie bekommen zwischen 300 und knapp 500 Mark monatlich. Deshalb ist die Leiterin der AWO-Kita in der Reichenberger Straße „richtig glücklich“,daß sie zweimal in der Woche umsonst in das nahe gelegene Spreewaldbad gehen können. „Dort blühen sie auf und haben Spaß“, erklärt Brigitte Hellbach. Der Schwimmbadbesuch ist so ziemlich das letzte Relikt, das Kitas kostenfrei ermöglicht wird.

In der Kreuzberger Kita gebe es, erzählt Hellbach, mittlerweile sichtbare Unterschiede zwischen ärmeren und wohlhabenderen Kindern. „Bei der Kleidung fällt das ganz kraß auf“, sagt sie. So würden manche zu kleine Hosen tragen, die Unterwäsche sei abgenutzt. Doch viel prägender für die Kinder, so Hellbach, sei nicht unbedingt die finanzielle Armut, sondern die soziale Armut, die Haltung gegenüber den Kindern. Und die habe nicht unbedingt etwas mit „arm“ und „reich“ zu tun. Ein Beispiel sei das monatliche Hinterhergerenne für ein paar Mark Gruppengeld, die die Eltern für Kleinigkeiten wie Snacks auf einem Ausflug in eine gemeinsame Kasse zahlen sollen. Manche kaufen sich dafür lieber eine Packung Zigaretten: „Es gibt genügend Eltern, die sehen keinen Wert, in ihr Kind zu investieren“.

Wenn die Eltern sich nicht um die materiellen Bedürfnisse der Kinder kümmern können oder wollen, werden Kids immer häufiger selbst initiativ. So stand in einer Bäckerei in der Oppelner Straße in Kreuzberg wochenlang eine Sammelspendenbüchse für die Klassenfahrt einer sechsten Grundschulklasse. Der 11jährige Markus* „bettelte“ mit seinem Freund in der U-Bahn um ein paar Mark, auch für eine Klassenfahrt. Der Gang durch die U-Bahn-Waggons sei ihm aber absolut nicht peinlich, sagt er. Ihm sei es einfach „wichtig“ mitzufahren, erzählt er mit ernstem Gesicht. Seine Eltern könnten ihm das Geld nicht geben. Unfreundliche Reaktionen von den MitfahrerInnen hat der Grundschüler bisher nicht erfahren. Ganz im Gegenteil: Seine grellorange Baseballmütze ist nach einer Fahrt auf der U-Bahn-Linie 1 gut gefüllt, mit vielen Groschen und Markstücken, jemand hat sogar einen Schein hineingelegt.

Das Thema Geld, woher die Kids es kriegen und wofür sie es ausgeben, spielt auch eine große Rolle in einer achten Klasse der Weddinger Ernst-Reuter-Gesamtschule. Auf der Schule sind nicht wenige SchülerInnen, deren alleinerziehende Mütter mit 1.200 Mark monatlich auskommen müssen. Die 13jährige Jeanette* hat zum Beispiel nur 125 Mark im Monat zur Verfügung. Davon muß das blasse Mädchen mit der silberfarbenen Brille alles kaufen: Kleidung, Schulhefte, CDs, das Mittagessen in der Schule. Wenn Jeanette über ihr „Haushaltsgeld“ redet, das sie eigenverantwortlich verwaltet, dann spricht sie wie eine Große über die Lohntüte. Sie weiß haargenau, wo es billige Jeans zweiter Wahl gibt, und bringt sich das Pausenbrot selbst mit: „Schmieren ist viel billiger.“ Trotzdem ist am Monatsende bei ihr und ihren Eltern knappe Kasse.

Auch Claudias* Eltern haben wenig Geld. Die 13jährige erzählt ein bißchen enttäuscht, daß ihre Freundin Petra* nicht mehr am Wochenende bei ihr schlafen darf – aus einem ganz pragmatischen Grund: „Das zusätzliche Abendbrot ist meinen Eltern zu teuer.“ Daß sich die Geldprobleme der Eltern verschlimmern könnten, ist bei beiden Mädchen kein Thema. Viel lieber reden sie über die Klassenfahrt im nächsten Jahr und welche der SchülerInnen sich das Geld erst mit Babysitten oder Bügeln bei der Tante verdienen muß. Und dann gibt es noch etwas, was sie richtig beim Thema Geld aufregt: „Wir bekommen jetzt immer die zerfledderten Schulbücher der Älteren, das ist richtig doof.“ Julia Naumann

* Namen geändert

Veranstaltungen zum Weltkindertag auf Seite 22