: Grenzwege
Eine Fußreise vom Inn an den Genfer See ■ Von Werner Trapp
Die Idee klingt verlockend: Eine Fußtour von fast sieben Wochen. Eine Weitwanderung vom östlichsten Zipfel der Schweiz quer durch den südlichen Alpenbogen bis an die Ufer des Genfer Sees. Ursula Bauer und Jürg Frischknecht haben dazu ein Buch herausgegeben mit dem etwas kuriosen Titel „Grenzschlängeln“.
Der aber bezeichnet ziemlich genau, worum es bei diesem Projekt geht – um Wege über, diesseits und jenseits der Grenzen.
Das Unternehmen beginnt im unterengadinischen Samnaun, einem abgeschiedenen Tal, das noch zu Beginn des Jahrhunderts auf der Straße nur von Tirol aus zu erreichen war. „Es ist eine grosse Einsamkeit da hinten, und man fühlt sich unsäglich weit von der Welt“, hatte der Thurgauer Hans Schmid in seinen „Bündnerfahrten“ 1920 notiert. Damit ist es vorbei: Über 30 Millionen Liter Benzin werden derzeit jährlich von weit her ins Samnaun verfrachtet, und mehr als 2.000 Autos fahren täglich dort hin, um dieses t(d)ankend wieder abzuholen. Die Talschaft ist nämlich „Zollausschlussgebiet“ und setzte allein 1994 im motorisierten Tageseinkaufstourismus 125 Millionen Franken um – mehr als die Flughäfen Zürich und Genf zusammen. Wo soviel Geld ist, wird auch investiert: Erschließungsprojekte allenthalben, Tankstellen, Shops, eine als Weltneuheit gepriesene Doppelkabinenbahn gar – schöne Aussichten also gleich zu Beginn.
Da scheint der Blick zurück in die Vergangenheit geradezu tröstlich: Wo immer wir mit den Autoren unterwegs sind, begleiten uns die Berichte von Reisenden, die Täler und Höhen noch im Status der Unschuld gesehen hatten. Schilderungen wie die erstmals 1860 erschienenen „Naturbilder aus den Rhätischen Alpen“ eröffnen Einblicke in die Pionierzeit touristischer Eroberung des Gebirges und provozieren zu Vergleichen mit der Gegenwart. Dazwischen tut sich ein weites Feld von Geschichte und Geschichten auf, das Bauer und Frischknecht mit einer schier grenzenlosen Neugier fortschreitend erschließen, über genau 47 Tagesetappen hinweg.
„Grenzschlängeln“ ist – wie könnte es anders sein – auch ein Buch über den (Un-)Sinn, die Folgen nationalstaatlicher Grenzziehungen im Alpenraum. Das Ende der Tour führt von Chatel über den Col de Verne nach St. Gingolph am Genfer See – mitten durch ein Gebiet, in dem jüdische Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs verzweifelt versuchten, von Frankreich aus in die Schweiz zu gelangen.
Das Haus „Le Clou“ oberhalb des Grenzdorfs Novel, in dem viele Unterschlupf fanden, steht noch. Ungezählte aber wurden von eidgenössischen Zöllnern aufgegriffen und abgewiesen: „Von der Schweiz nach Auschwitz“ ist das letzte Kapitel des Weges überschrieben – eine wunde Erinnerung in schöner Landschaft.
Am 19. Tag, zwischen dem Lago di Lugano und dem Lago Maggiore, ist das Thema „Flüchtlinge und Grenzen“ Gegenwart. Eine junge Frau aus Syrien ertrinkt am 3. November 1987 bei dem Versuch, durch den Grenzfluß Tresa zu waten; zwei Monate zvuor war ein junger kurdischer Flüchtling im nahen Luino an Erschöpfung gestorben – namenlose Tragödien an den Grenzen zur Wohlstandsfestung Europa.
Natürlich könnte man sich, wie in konventionellen Reiseführern üblich, mit dem Blick auf die Schönheiten der Landschaft, auf die „Zeugnisse von Kunst und Kultur“ begnügen. „Grenzschlängeln“ faßt den Begriff der Kultur weiter, begreift gerade die Fußreise über weite Distanzen als eine Möglichkeit, sich Landschaft auf eine möglichst umfassende Weise anzueignen. Es zeigt, daß nicht nur Dörfer, Städte und Landschaften eine Geschichte haben, sondern auch die Wege, die diese verbinden.
Wenig später nur sind wir auf einer alten italienischen Militärstraße unterwegs Richtung Luganer See, fällt der Blick auf Befestigungsanlagen aus der Zeit der beiden Weltkriege – und schon führt der Weg entlang der Grenze mitten hinein in die europäische Zeitgeschichte: Jenseits des Lago Maggiore kommt man durch das Gebiet der ehemaligen Partisanenrepublik von Ossola – jenes kurzen „Traumes von Selbstbestimmung und Freiheit“, dem faschistische Truppen schon nach sechs Wochen ein blutiges Ende bereiteten. 1944 flohen hier Hunderte italienischer Zivilisten in der Nähe der Bagni di Craveggia in die Schweiz.
Jeder Weg hat (s)eine Geschichte – das gilt vor allem für die zahllosen Pässe und Übergänge dieser Tour, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit als „sentiero della contrabbandiera“, als „Schmuggler-Direttissima“ eine Rolle spielten.
Wege sind Elemente einer historisch gewachsenen Kulturlandschaft, die sich ständig verändert. Sehr oft stoßen die Autoren auf massive Eingriffe: An immerhin 15 künstlich gestauten Seen führt die Route vorbei, der jüngste See – mit einem Fassungsvermögen von 225 Millionen Kubikmetern sowie einer Staumauer von 180 Metern Höhe und 555 Metern Länge – stammt aus dem Jahre 1972. Manche Wege verschwinden, wie im Valpelline, unter dem Asphalt einer neugebauten Straße.
„Grenzschlängeln“ beschreibt keinen ausgewiesenen und erschlossenen Weitwanderweg. Es nutzt vielmehr das Netz vorhandener Wege, um eine Tour nach eigenem Gusto zu kombinieren. Und obwohl es als politsch und ökologisch sensibles Wanderbuch alle Tips und Informationen bereithält, die man zur Nachahmung einer solchen Tour braucht.
Ein internationaler Trampelpfad wird diese Tour nicht werden. Dafür werden wohl allein schon die damit verbundenen Mühen sorgen: Nicht weniger als 49.950 Höhenmeter an Auf- und gar 50.650 Meter an Abstiegen gilt es zu bewältigen. Wem das zuviel sein sollte, der ist mit einer „Reise im Kopf“ auf genau 431 Buchseiten mehr als gut bedient.
Ursula Bauer, Jürg Frischknecht: „Grenzschlängeln. Routen, Pässe und Geschichten. Zu Fuss vom Inn an den Genfer See“. Rotpunktverlag, Zürich 1995, 431 Seiten mit zahlreiche Abbildungen, 45 DM/SFr
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