: Im Frühtau...
Wandern ist out, jedenfalls für Jüngere, behauptet ■ Christine Berger
Die eigentliche Qual am Wandern ist das Tal. Dieser miese geologische Einschnitt liegt einfach immer zu tief, zu schmal, zu scheu zwischen den mächtigen Gipfeln. Wanderer am Fuße eines Berges kennen das Gefühl: Wenn sie die Augen aufschlagen und versuchen, ganz weit oben das Gipfelkreuz zu orten, steht man plötzlich vor der Wahl. Entweder gleich wieder marsch, marsch ins weiche Pensionsbett oder den Kampf aufnehmen, stark sein, schuften, bis man oben steht.
Hartgesottene Naturen stehen noch vor dem Sonnenaufgang auf, stapfen in der Dämmerung die ersten Kilometer, froh über die feuchte Kühle des Morgentaus, die den Schweißbächen auf dem Rücken Einhalt gebietet und den keuchenden Atem erfrischt. Dann, wenn bequemere Urlauber gerade ihr Frühstücksei aufklopfen, stehen die eisernen Wandervögel bereits auf dem Gipfel, genießen die Aussicht und das Alleinsein. Stunden später werden sich hier die Amateurwanderer tummeln, schweißgebadet.
Wir sind weder das eine noch das andere, was heißen soll, vor neun Uhr wird kein Fuß auf den Wanderpfad gesetzt. Im kleinen Dörfchen Hall, wo wir unser Quartier aufgeschlagen haben, sind die Bauern der Umgebung schon längst auf den Beinen, um die Tiere zu versorgen und nebenbei das morgendliche Alpenglühen auf den Gipfeln zu begrüßen.
Kaffee trinken, Proviant einpacken, ein kurzer Blick auf die Wanderkarte, und los geht's. Die Berge der Steiermark sind für Flachlandtiroler wie uns erschwinglich. Knapp über zweitausend Meter reckt sich der Kalkstein rund 150 Kilometer südlich von Linz in den Himmel, ein Höhenunterschied von über tausend Metern zu unserem Dorf.
Spielt das Wetter mit, erobern wir jeden Tag ein neues Gipfelkreuz. Andere Wanderer sind in dieser Gegend kaum unterwegs. Allenfalls am Wochenende parken ein paar Wiener Autos am Waldrand. Einheimischen ist die Gegend wohl zu vertraut und mit Arbeit belastet, Touristen aus Deutschland wiederum fahren lieber nach Kärnten oder Tirol. Uns ist das Fehlen der Touristenrudel mehr als recht. Auf diese Weise sind Heidelbeerfelder links und rechts der Wanderwege tatsächlich noch voller Früchte, das Essen auf den Berghütten kostet kein Vermögen, und die Gemsen leben hier noch nicht ausschließlich von Proviantresten der Ausflügler.
Dennoch ist was faul auf den Bergen, und das hat mit unserem Alter zu tun. Wanderer sind zumindest in dieser Ecke Österreichs in der Regel über 50, zünftig gekleidet mit Knickerbockern und Wanderstab. Menschen unter 30 Jahren begegnen uns mit Mountainbike, kletternd in der Felswand, meistens aber gar nicht. Übernachten wir auf einer Hütte, weitab von jeglicher Zivilisation, herrscht an manchen Tagen eine Stimmung wie im Seniorenclub.
Den Hüttenabend gestalten die gealterten Gipfelstürmer in immer gleicher Manier. Erst werden die Ansichtskarten an die Lieben daheim geschrieben, danach kommen die Spielkarten auf den Tisch. Bis zum Eintreffen des Schweinebratens oder Kaiserschmarrens dreschen die Alten vor dem Kachelofen Skat oder Schafskopf. Während des Essens herrscht dann für einen Moment Stille. Nach zwei, drei Weinflaschen und einigen Verdauungsschnäpsen beginnen die ersten ihre ausgeprägte Liebe zum österreichischen Volksliedgut kundzutun. Da hilft nur die eilig eingeleitete Flucht auf das Matratzenlager. Das Treiben im Schlafraum lenkt vom nicht enden wollenden vielstimmigen Gesang ab.
Was für ein Rascheln, Zippen und Tuscheln! Schlafsäcke werden ausgebreitet, Zahnbürsten fallen runter, jemand fragt nach den Duschen, die es aber in zweitausend Metern nun mal nicht gibt. Bis die zwanzigköpfige Saalbelegschaft zur Ruhe kommt, vergehen endlose Stunden.
Der nächste Morgen auf der Hütte ist Belohnung für alle akustischen Strapazen der vergangenen Nacht. Morgens um sechs malt die Sonne feuerrote Gipfel, zwischen den Felsen wabert der Nebel. Eine unglaubliche Stille ummantelt das Szenario, und so etwas wie Ehrfurcht wächst angesichts dieser Schönheit. Für einen Augenblick möchte man mit dem Hüttenwirt tauschen, der hier im Sommer den Laden schmeißt. Ob der jedoch zum Fenster hinaussieht, ist fraglich, denn seine über fünfzig Gäste wollen in kurzer Zeit alle frühstücken, und er kocht Kaffee, was das Zeug hält.
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