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■ NachschlagDas Theater sieht dich an: Drei Artaud-Projekte bei den Festwochen

In diesem September blühen die Artaud-Projekte in Berlin. Gesprossen aus dem 100. Geburtstag des französischen Dichters und Theatervisionärs und beschienen von der Sonne der Festwochen zum Thema Frankreich/Deutschland, ist das auch kein Wunder. Da war zunächst, am 4. September, dem Gedenktag selbst, eine vielteilige „Begegnung“ im Tacheles. Eingangs arrangierte Ralf Räuker mit vier Darstellerinnen und einem Tänzer unter dem Titel „deplaziert und heimatlos“ nicht ohne Ironie ein szenisches Geburtstagsständchen. Vor einem Flügel, einer Torte aus rotgebundenen Büchern und diversem Schlagwerk führten die Frauen Worte von Freunden Artauds im Munde, von Génica Athanasiou oder JeanLouis Barrault, bekleideten sich mit Teilen seiner Garderobe und führten in Form kleiner, disziplinierter Improvisationen vor, daß einst einer lebte, der den Menschen ein Rätsel bleibt.

Auch die folgenden Acts hielten zum Werk Artauds Distanz und tummelten sich eher im umgebenden Strahlenkranz der Assoziationen. Mex Schlüpfer etwa beeindruckte durch Sprechgesang über einen Träumer, dem wir alle folgen sollten und trommelte danach auf seinen Plastikthron, während eine Darstellerin als Muttergottes auf ihrer rechten Brust ein Herz blinken ließ, was recht lustig mit dem gemeinschaftlichen Abbrennen von Wunderkerzen endete.

Antonin Artaud, 1946 Foto: Georges Pastier/Matthes & Seitz

Daran gemessen war das Festwochen-Gastspiel aus Straßburg im Theater am Halleschen Ufer am Samstag ein Wagnis. Philippe Clévenot spielte Artaud, und das knapp zwei Stunden lang. Nach langen Jahren in der Psychiatrie hatte Artaud im Januar 1947 einen Vortrag im ThéÛtre du Vieux-Colombier gehalten, in dem er sagen wollte, „was mich seit langem fertig macht“. Und er sagte es. Daß nämlich die Gesellschaft das Individuum durch all ihre Institutionen und Wissenschaften zu täuschen und ermorden trachte. Ein Tisch und ein Stuhl auf der Bühne und Clévenot im schäbigen Anzug, mit fettigen Haaren und einem dünnen Wollschal um den Hals. Ein vernachlässigter Intellektueller, der seinen Vortrag souverän artikuliert und nur durch die Geschwindigkeit und seltene Ausfälle merken läßt, daß hier einer Angst hat, die Worte könnten ihn verlassen, gleichzeitig aber auch darüber zu triumphieren imstande wäre – läßt sich, was er sagen will, doch kaum in Worte fassen. Clévenot vermeidet jene Exzentrik, die zu Auftritten Artauds kolportiertermaßen gehörte wie die Kieme an den Fisch. Vielmehr interpretierte er den Text mit neu empfundener Ruhe, was manchen zu wenig war, dem Restpublikum aber viel Beifall entlockte.

Ungleich theatralischer ist die deutsch-französische „Recherche Faust/Artaud“, die im bat-Studiotheater am Donnerstag Premiere hatte. Diese Artaud-inspirierte Variation auf das „Faust“-Fragment von Georg Heym aus dem Jahr 1911 ist die Diplominszenierung des Ernst-Busch-Regieschülers Thomas Ostermeier – eine Arbeit, die so kraftvoll antipsychologisch und bildmächtig chorisch ist, daß man einigermaßen erstaunt ist zu lesen, Ostermeier habe sich bereits ans Deutsche Theater verpflichtet. Berliner Ensemble hätte man noch eher angekreuzt. Nun denn, es war außergewöhnlich gut. Faust in der Großstadt Berlin, im Lunapark, Gretchen als Liebchen Mephistos – ein frühexpressionspoetisches Volksstück. Bettler „scharren“ im Morgengrauen. „Oben hängen Gerippe. Diebe leuchten, Mädchen gehen spazieren.“ Das alles nur verwischt erzählt, aber um so eindrücklicher gestaltet. Im Sinn: des nervenkranken und genialen Visionärs Leben, im Körper: seine Sehnsucht nach einer textunabhängigen Theatersprache. Stéphane Laimé hat ein schräges Dach gebaut, wie ein Atelierfenster, nur aus Metall. Darauf sieben Fäuste, inklusive einem Gretchen, außerdem eine Mephista. Die sieben tragen rotbraune Anzüge über weißen Nachthemden, die Mephista geht in Grau. Die Fäuste ruckeln wie in der Geschlossenen, schlagen sich auf die Arme wie vor einem Schuß. Die Französin Dominique Frot tritt auf als teuflische Schlange. Sie knarrt die deutschen Worte verfremdet, als ob sie sie kaum verstünde – was Sprache war, wird Laut und bleibt doch Sinn.

Eine Fabrik spielend stampfen die Darsteller etwa manisch auf den Boden, schlagen mit den Händen auf das Dach, werfen sich herum und prügeln beiläufig aufeinander ein, ohne sich zu schonen. Eine wütend nach der Logik des Lebens suchende Faustmaschine, die einen beängstigend rhythmisiert. Hospitalismus, Wahnsinn, Versmaß, Industrie. Später binden sie sich Kopftücher um, legen sich Bücher wie „Wunderwelt Magie“ als Hostien auf die Zungen und singen „Eine feste Burg ist unser Gott“. Dann halten sie Metallplatten hoch und spielen Krieg mit Kopfkissen. Nicht in dem, was passiert, liegt die Gefahr, sondern darin, wie umstandslos sich alles als Ornament verstehen läßt. Am Ende, wie ganz am Anfang, werden zwei Augen auf die Rückwand projiziert. Schwarzweiß gerastert, zweimal eine unnatürlich zuckende Iris. Das Theater sieht dich an – und selten hat man so befremdet und fasziniert zurückgeschaut. Petra Kohse

Recherche Faust/Artaud, 24. bis 29.9., 19.30 Uhr, bat, Belforter

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