Fette Saiten

Unter dem Diktat der roten Zahlen: Auch Orchester und Chöre müssen sparen. Aber nicht alle!  ■ Von Frank Hilberg

Stellen wir uns einmal eine mittellangweilige Party vor. Sagen wir, der Protagonist (mittleren Alters, geistreich, phantasielos) will der Protagonistin (jung, hübsch und geistreich) erklären, wo er herkommt. Und er sagt: „Ich komme aus Kassel. Schon mal davon gehört?“ Auf diese Frage gibt es genau zwei mögliche Antworten: 1. „Ja, das ist eine Autobahnabfahrt auf dem Weg nach Frankfurt“, oder: 2. „documenta“. Genau! So funktioniert Kultur, jedenfalls die unter Politikern beliebteste Form davon, die Repräsentationskultur.

Das Berliner Philharmonische Orchester (BPhO) ist eine Sonderform davon. Im Auftrag des Landes reist es als klingende Visitenkarte in aller Welt herum, um den Ruhm der Stadt zu verbreiten. Sein Exchef (Karajan) ist ein Mythos, sein Nachfolger (Abbado) dirigiert sich zur Legende heran, sein Revier (Philharmonie) ist eine Pilgerstätte, und sein Klang ist schlichtweg unnachahmlich. Und wenn sich jetzt einmal wieder der rote Stift über die Häupter senkt, so haben die Herren (mittlerweile auch Damen) in der feinen Arbeitskleidung gewiß nichts zu fürchten: Nach der Evaluation des Senators für Kultur gehört das BPhO „zu den weltweit besten Klangkörpern. Diese internationale Spitzenposition muß gehalten werden.“ Heilige Milchkühe werden auch in Hungersnöten nicht geschlachten, ja, nicht einmal gemolken.

Gespart werden soll hingegen beim Berliner Sinfonie Orchester (BSO), das im Konzerthaus am Gendarmenmarkt residiert. Die Gelegenheit scheint günstig, von 113 Musikern werden 40 bis zum Jahre 2004 ruhiggestellt. Zudem geht der Chefdirigent 1998. Die Idee ist, das BSO mit dem Orchester der Komischen Oper zu fusionieren: Das soll 80 Musiker (gleich 8 Millionen Mark) und weitere Verwaltungsgelder sparen. Der Intendant Frank Schneider meldet gegen diese scheinbar elegante Lösung allerdings Bedenken an. Die Diskussionsvorlage sei „ein Ergebnis einer Planung am grünen Tisch, die theoretisch machbar scheint, aber künstlerisch hochproblematisch ist“. Zum einen weist er darauf hin, „daß die naturbedingten Abgänge nicht partiturgerecht vonstatten gehen“ und die Stellensparzahl daher unrealistisch ist. Zum anderen sind Opern- und Konzertorchester sehr verschieden. Während die einen vom Podium aus dem beobachtenden Publikum Auge in Auge gegenübersitzen, spielen die anderen im sanften Halbdunkel des Orchestergrabens allen Blicken einer durch die Bühne abgelenkten Hörerschaft entzogen etwas vor. Da muß es nicht immer ganz so genau sein. Fusionen oder Poolbildungen sind prinzipiell schwierig, denn ein Orchester ist kein Manufakturbetrieb, sondern ein ziemlich empfindlicher sozialer Organismus, wo jede atmosphärische Störung sich im Mißklang niederschlägt. Um einen bestimmten – unverwechselbaren – Orchesterklang (Sound) zu erreichen, brauchen selbst profilierte Dirigenten Jahre geduldigen Probens, und manchmal reicht schon die unglückliche Neubesetzung einer Stelle, um ihn zu verderben. So hat die erwartete Mentalitätsdifferenz zwischen Ost- und Westorchester schon vor Jahren den Plan einer Zusammenlegung der Rundfunkorchester gekippt.

1995 gab der Senat 73,9 Millionen Mark für Musik (exklusive Opernorchester) aus. 1996 werden es nur noch 70,2 Millionen sein. Bis 1999 werden weitere 11 Millionen abgezogen werden müssen. Um zu sparen, gibt es grundsätzlich drei verschiedene Möglichkeiten: weitere Einschnitte in den Budgets bei sonst gleichbleibenden Strukturen; die Zusammenlegung von Personal und Ressourcen; die ersatzlose Streichung eines Klangkörpers. Oder alles zugleich.

Abwicklungskandidaten sind die Berliner Symphoniker e.V., dessen Chefdirex Alun Francis wegen der strukturellen Unterfinanzierung bereits gekündigt hat. Welche Lücke würde entstehen, wenn es verschwände? Es träfe die Familienkonzerte, die Schulworkshops und die Jugendkonzerte, mit denen sich das Orchester durch mittelschwere Kost einen treuen Publikumsstamm erspielt hat. Ohne Jugendarbeit und Hörerrekrutierung aber ist die Zukunft der traditionellen Musikkultur sehr zweifelhaft. Das vom Senat aufgezogene Ensemble Oriol soll jetzt diese Funktion übernehmen, die es – als reines Streichorchester – gar nicht übernehmen kann. Auch ist es einstmals auf die Rennbahn geschickt worden, um eine internationale Karriere zu machen, nicht um durch Schulen zu tingeln. Im übrigen kosten Abwicklungen kurzfristig mehr, als sie einsparen, denn für jeden Musiker werden in der Regel dreieinhalb Jahresgehälter an Abfindung fällig. Zahlbar sofort.

Neben diesen Heavy-weights, die Subventionen zwischen 6 und 26 Millionen Mark verschlingen, nehmen sich die Budgets der Klangkörper aus der Peanuts-Liga bescheiden aus. Zwischen 300.000 und 2 Millionen Mark gehen, in absteigender Reihenfolge, an diverse Institutionen und Festivals der Bereiche Jazz, Rock und Pop, an Laienspielscharen und -chöre, an Neue Musik und Alte Musik. Sie produzieren allerdings auch bei weitem nicht soviel Musik wie die Orchester. Bisher war die Ausstattung der Stadt mit Musik recht erfreulich. Acht große Orchester der oberen Güteklasse, mehrere kleine Orchester, eine Reihe von Ensembles, dazu ein Projektmittel für Konzerte, Festivals, Initiativen... Eine erstaunliche Blüte, die zwar bisweilen von Einfallslosigkeit und Wiederholungszwang in den Programmen und Schlampigkeiten bei der Durchführung angewelkt ist, aber dennoch ein breites Spektrum an Musik abdeckt.

Wie viele Orchester braucht eine Stadt eigentlich? Die einfachste Antwort ist: So viele wie besucht werden. Da die Auslastung der Konzerte bei 70 bis 90 Prozent liegt, kann von einem Überangebot nicht die Rede sein. In der Bundesrepublik gibt es 144 aus öffentlichen Mitteln getragene Orchester – das ist eine vom Rest der Welt unerreichte Orchesterdichte und ein echter Anlaß, stolz zu sein.

Der von der Senatsverwaltung vorgelegten Diskussionsvorlage muß bei aller Kritik an den Vorschlägen zugestanden werden, daß sie ein vertracktes Dilemma zu lösen hat – auf die Diskussion darf man gespannt sein. Übrigens: Wo sind eigentlich die 60 Millionen Mark aus der Staatsaktion „Leuchttürme für die Hauptstadt“ geblieben? Diese Kulturförderung des Bundes sollte gezielt für bedeutende Institutionen zur Verfügung stehen und nicht im Etatloch versickern. Eines ist sicher: Eine künstlerisch befriedigende, sozial verträgliche und finanziell wirksame Lösung braucht Zeit, Fingerspitzengefühl und eine genaue Zielvorstellung (vulgo: Vision). Kurzfristige Lösungen werden mit Sicherheit mehr zerstören als einsparen. Und klar sein sollte auch: Wenn Berlin überhaupt als Wirtschaftsstandort etwas zu bieten hat, das Geld bringt, dann ist es das, wofür es Geld ausgibt: Kultur.