: Der Blick in die Ursuppe
Sind Eiweiße, die sich selbständig vermehren können, der Ursprung des Lebens? ■ Von Matthias Selbach
„Ich sah keinen Grund, warum Eiweiße sich nicht selbst vermehren können sollten.“ Diese Unbekümmertheit führte M. Reza Ghadiri vom Scripps-Forschungsinstitut im kalifornischen La Jolla zum Erfolg. Es gelang ihm erstmals, ein Eiweiß herzustellen, das sich selbst reproduziert. Die Entdeckung könnte entscheidend für die Suche nach dem Grundstein des Lebens sein, nach dem Wissenschaftler schon lange fahnden.
Vor 3,5 Billionen Jahren waren die Bedingungen auf der Erde alles andere als einladend. Giftige Ammoniakschwaden wehten über rotglühende Lavamassen, Meteoriten und Blitze schossen vom Himmel, begleitet von sintflutartigen Regenfällen. Wie unter diesen Bedingungen die ersten lebenden Zellen entstehen konnten, ist eines der größten ungelösten Rätsel der Evolution.
1953 gelang es Stanley Miller mit einer simplen Rezeptur, einige Bestandteile lebender Zellen herzustellen. Der Chemiestudent aus Chicago versuchte, die Verhältnisse auf der jungen Erde zu simulieren. In einer simplen Apparatur mischte er Wasser, Ammoniak und Methan zu einer Art Ursuppe zusammen und erzeugte künstliche Blitze in dem Gemisch. Sein Ansatz erwies sich als äußerst fruchtbar. Was berühmte Biochemiker wie der Nobelpreisträger Melvin Calvin nicht vermochten, gelang dem Studenten Miller innerhalb kürzester Zeit. Schon nach einer Nacht konnte er in seinem Versuchskolben Aminosäuren nachweisen.
Aus Aminosäuren bestehen die Eiweiße. Ohne diese Stoffklasse ist Leben nicht vorstellbar: Eiweiße sind gewissermaßen die molekularen Werkzeuge des Lebens. Vom Sauerstofftransport bis hin zur Verdauung von Nahrung erledigen sie alle Prozesse, die in einem Organismus wichtig sind. Neben den Eiweißen sind als weitere Stoffgruppe die Nukleinsäuren wichtig. Aus ihnen ist die DNA aufgebaut, die die Erbinformation aller Lebewesen speichert. Auch die Bauanleitung für die Eiweiße wird durch die DNA festgelegt. Eiweiße und Nukleinsäuren sind aufeinander angewiesen. Ohne DNA würde den Eiweißen die Bauanleitung fehlen. Andererseits kann sich die DNA nur mit Hilfe von Eiweißen vermehren. Doch was gab es nun zuerst, Eiweiße oder Nukleinsäuren? Diese Frage ist nichts anderes als eine Variante des alten Huhn- Ei-Problems. Forscher sind deshalb auf der Suche nach der Ursubstanz des Lebens – einem Stoff, der die Eigenschaften von Eiweißen und Nukleinsäuren gleichzeitig besitzt.
Die neuen Ergebnisse von Reza Ghadiri könnten der entscheidende Durchbruch sein. Es gelang seiner Arbeitsgruppe erstmals, Eiweiße herzustellen, die sich unabhängig von Nukleinsäuren vermehren können. Die Forscher schnitten ein aus 32 Aminosäuren bestehendes Stück aus einem in Hefezellen vorkommenden Eiweiß heraus. Anschließend veränderten sie das Fragment gezielt an sechs Stellen. Die molekulare Bastelei veränderte die Eigenschaften des Eiweißes drastisch. Es konnte nun selbständig Tochtermoleküle produzieren. Bauanleitung war dabei nicht die DNA, sondern das Eiweiß selbst. Mit weniger als 15 Prozent Nebenprodukten lief die Reaktion erstaunlich präzise ab. Ghadiri rechnet nun seinem Modell Chancen aus: „Die Möglichkeit selbstreplizierender Eiweiße am Anfang der Evolution des Lebens sollte in Betracht gezogen werden.“ Sind Eiweiße wie das von der Arbeitsgruppe hergestellte also tatsächlich die so lange gesuchten Ursubstanzen?
Bisher sind viele Wissenschaftler anderer Meinung. Sie glauben, daß es Nukleinsäuren vor den Eiweißen gab, nicht umgekehrt. Demnach sollen sie in den ersten Organismen als sogenannte Ribozyme die Aufgaben von DNA und Eiweißen gleichzeitig übernommen haben. Gerald Joyce ist ein Anhänger dieser Theorie. Er arbeitet wie sein Kollege Ghadiri am Scripps- Institut in La Jolla. Auf einer Konferenz über den Ursprung des Lebens im französischen Orléans stellte er vor wenigen Wochen seine Ergebnisse vor. Joyce unterwirft Ribozyme im Reagenzglas einer Art molekularen Evolution. Er hat eine Maschine konstruiert, die die Ribozyme automatisch verändert und nach festgelegten Eigenschaften auswählt. So können sie von Generation zu Generation immer schneller bestimmte chemische Reaktionen durchführen. Joyce gab zu, daß seine Ribozyme noch nicht als lebendig angesehen werden können, weil sie sich nicht selbständig vermehren. Mit der Evolutionsmaschine glaubt er jedoch auch dieses Ziel erreichen zu können. Joyce lobt zwar die neuen Resultate seines Kollegen Ghadiri, zieht aber nicht dieselben Schlußfolgerungen: „Ich würde nicht sagen, es beweist, daß das Leben mit Eiweißen begann.“
Manche Forscher haben noch ganz andere Theorien. Die angeblichen Lebensspuren auf dem Marsmeteoriten erfreuen nicht nur die Nasa. Auch Chandra Wickramasinghe von der Universität von Wales in Cardiff sieht eine alte Idee von ihm bestätigt. Seiner Ansicht nach ist Leben keine so ungewöhnliche Ausnahmeerscheinung: „Wir glauben, Leben ist ein kosmisches Phänomen.“ Nach seinem Konzept schwirren im gesamten Weltraum Kometen umher, die primitive Mikroorganismen beherbergen. Wie interplanetare Saatkörner sollen sie nach und nach viele Planeten mit Leben befruchtet haben, unter anderem auch den Mars und die Erde. „Der Grund, warum die Spuren des Lebens auf der Erde und auf dem Mars so ähnlich sind, liegt darin, daß auf beiden Planeten ähnliche Organismen ausgepflanzt wurden“, meint Wickramasinghe. Wie das Leben auf den Kometen entstanden sein soll, vermag er allerdings auch nicht zu sagen.
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