Das Chicago der anderen 20 Prozent

Junge Schwarze, vor allem alleinerziehende Mütter, sind in den USA der Sündenbock für alles – und sie sind von der „Sozialreform“ Clintons, die nächste Woche in Kraft tritt, am meisten betroffen  ■ Aus Chicago Andrea Böhm

Dominique Spruill sieht zum ersten Mal in seinem Leben einen Politiker, und gleich einen mächtigen. Robert Reich, US-Arbeitsminister mit einer Körpergröße von knapp einem Meter fünfzig, blickt anerkennend zu dem Siebenjährigen hinauf. „Mein lieber Mann, du bist ja ganz schön groß für dein Alter. Was gibt dir deine Mutter zu essen? Meine hat irgendwas falsch gemacht.“ Dominique zupft verlegen an der Naht seiner frisch gebügelten Hose. Seine Mutter Renee Spruill könnte den Minister durchaus mit den täglichen Problemen der Versorgung ihrer Kinder vertraut machen. „Ich weiß ja nicht, was Ihre Mutter für Schwierigkeiten hatte. Aber ich kann Ihnen flüstern, daß 400 Dollar Sozialhilfe im Monat für mich und meine drei Kinder kein Zuckerschlecken sind. Und wenn mir das Amt jetzt noch die Lebensmittelmarken kürzt, bloß weil ich eine billigere Wohnung gefunden habe, dann weiß ich bald nicht mehr, wie der Bengel weiter wachsen soll.“

Die Gelegenheit ergibt sich nicht, weil Reichs Pressesprecher für den Besuch beim Sozialprojekt „Jobs for Youth“ in der Chicagoer Innenstadt nur zehn Minuten eingeplant hat und anstelle einer Unterhaltung seinen Chef lieber zum Gruppenbild mit Armen bittet. Bei „Jobs for Youth“ versuchen ehrenamtliche und festangestellte Berater scheinbar chancenlose Bewerber auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen: junge schwarze Männer und junge schwarze Mütter aus den Ghettos. Robert Reich ist an solchen Programmen ganz besonders interessiert, seit sein Studienfreund und Chef Bill Clinton trotz seiner Einwände ein Gesetz unterzeichnet hat, mit dem Sozialhilfeempfänger aus „ihrer Abhängigkeit vom Staat befreit“ werden sollen. Das Anrecht auf Bundeshilfe bei Bedürftigkeit gibt es ab dem 1. Oktober nicht mehr. Renee Spruill ist – zusammen mit 36 Millionen anderen US-Amerikanern – ab sofort auf die Großzügigkeit des Bundesstaates angewiesen, in dem sie lebt. Illinois hat nicht den Ruf, seinen Armen gegenüber besonders großzügig zu sein. Laut „Reform“ kann der Staat sie und ihre Kinder nach insgesamt fünf Jahren von jeder Unterstützung abschneiden. Innerhalb von zwei Jahren soll sie sich einen Job suchen, was sie mit Hilfe von „Jobs for Youth“ gerade versucht. „Aber wer paßt dann auf meine Kinder auf?“ Kinderbetreuung ist rar und teuer – und würde den Großteil des Niedriglohns verschlingen, den eine 24jährige Mutter ohne Arbeitserfahrung und Ausbildung erwarten darf. Damit nicht genug: Renee Spruill wird als Arbeitnehmerin mit größter Wahrscheinlichkeit die Krankenversicherung verlieren, die ihr als Sozialhilfeempfängerin zusteht. „Ja, das ist ein großes Problem“, sagt der Arbeitsminister und guckt mit besorgter Miene, bevor er mit seiner Entourage zum nächsten Termin, dem demokratischen Parteitag, verschwindet.

Chicago zeigt sich zu diesem Ereignis von seiner besten Seite: eine boomende Innenstadt, neue Restaurants, Kneipen und Bars mit Blick auf den Michigansee. Das Little Village mit seiner „Magnifico Mile“, dem blühenden Geschäftszentrum der Latinos. Die Bezirke entlang des Michigansees mit ihrer zunehmend gemischten Bewohnerschaft von Schwarzen, Weißen, Latinos, Studenten, Yuppies. Guter und billiger Wohnraum ist ebenso vorhanden wie ein funktionierendes öffentliches Nahverkehrssystem. Die Stadt, einst Beispiel für den Niedergang des urbanen Amerikas, zeigt seit mehreren Jahren alle Anzeichen der Genesung.

Eine Gruppe bleibt davon unberührt: jene 20 Prozent der Chicagoer, die unterhalb der staatlich festgelegten Armutsgrenze leben, die derzeit bei einem Jahreseinkommen von 11.522 Dollar für eine dreiköpfige Familie liegt. Sie sind überwiegend schwarz und leben in den Sozialbau-Ghettos der South oder der West Side oder in den Wohnblocks im Norden. In diesen Nachbarschaften liegen die Arbeitslosenquoten über 50 Prozent, drei Viertel aller Kinder wachsen ohne Vater auf; die meisten alleinerziehenden Mütter beziehen Sozialhilfe; die Fassaden der Geschäftsstraßen sind ausgebrannt, viele Fenster vernagelt, dazwischen einige Schnapsläden und Pfandleiher. Vor fünfzig Jahren befanden sich hier intakte schwarze Nachbarschaften mit städtischer Infrastruktur und genügend Arbeitsplätzen in den Industriebetrieben. Die Firmen sind längst dicht oder abgewandert. Die wenigen Freizeiteinrichtungen sind wegen Schießereien zwischen verfeindeten Gangs oft tagelang geschlossen. In Siedlungen wie den „Henry Horner Homes“ oder den „Robert Taylor Homes“ schlafen die Kinder nicht in, sondern unter den Betten – aus Angst vor Querschlägern.

Kinderbetreuung hat vor diesem Hintergrund eine andere, existentiellere Bedeutung, als es die Mitbürger in den Suburbs wahrhaben wollen. Die sind derzeit ohnehin wenig geneigt, Frauen wie Renee Spruill mehr zuzugestehen als das Recht, sich einen Job zu suchen, und die Pflicht, nicht noch mehr Kinder in die Welt zu setzen. Jack Connelly, Direktor von „Jobs for Youth“, kennt das. „Junge Schwarze – besonders alleinerziehende Mütter – sind derzeit der Sündenbock für alles: Kriminalität, Scheidungsraten, Gangs, Teenage- Schwangerschaften, Drogenkonsum an den Schulen.“

Ein paar tausend sind in den 17 Jahren seit Gründung von „Jobs for Youth“ durch seine Büros gezogen, haben hier ihr Abitur nachgeholt, Bewerbungsgespräche simuliert, Kleidungs- und Benimmregeln studiert und sich in der Kunst, pünktlich zu sein, geübt, Dinge, die man nicht in der South Side lernt. „Das sind Leute, die ihr Leben lang im Ghetto gewohnt haben; dort gibt es keine Jobs, und außer Polizisten und Hausmeistern kennen diese Kids keine Menschen, die arbeiten. Wir haben es hier mit Leuten zu tun, die oft nicht mal wissen, wie man die U-Bahn benutzt.“ Wer die Vorbereitungskurse erfolgreich absolviert, wird an eine von über 400 Chicagoer Firmen vermittelt, die pro Jahr rund 1.500 „Jobs for Youth“-Absolventen anheuern. Der Anfangslohn liegt bei 6,21 Dollar. Die Palette der Jobs reicht von Schalterangestellten bei Banken und Fluggesellschaften über Betreuer im Sportstudio, Kellner oder Kassierer bis zum Bibliotheksassistenten.

Connelly weiß also, wie man Sozialhilfeempfängern beim Sprung auf den Arbeitsmarkt helfen kann – bloß hatte ihn in Washington keiner gefragt. „Es ist Wahnsinn, wenn der Bund die Verantwortung für Arme einfach abstreift und noch nicht einmal genügend Mittel für Ausbildung, Job-Training und Kinderbetreuung zur Verfügung stellt.“ Reform mit dem Rotstift ist eben keine. Das demonstrierte der Bundesstaat Illinois bereits vor zwei Jahren, als Parlament und Gouverneur die „General Assistance“, die Sozialhilfe für kinderlose Erwachsene, abschaffte. Rund 70.000 Armen – meist alleinstehenden Männern – wurden der monatliche Scheck von 161 Dollar und die Krankenversicherung gestrichen. Als Ersatz gibt es seitdem ein staatliches Arbeitsprogramm mit Teilzeitjobs ohne Krankenversicherung und einer Laufzeit von sechs Monaten. Die „Chicago Urban League“ und die „University of Wisconsin“ haben dem Staat Illinois vor kurzem vorgerechnet, daß für insgesamt 290.000 Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger ohne Ausbildung gerade 70.000 Jobs vorhanden sind.

Nur wenige Blocks von den „Henry Horner Homes“ in der West Side entfernt steht das gigantische Symbol dessen, was manche „das neue Sozialnetz“ nennen. Der „Cook County Juvenile Court“, das Jugendgericht der Stadt, taucht in der „Liste der Superlative“ des Chicagoer Fremdenverkehrsamtes nicht auf – obwohl es das größte in den USA ist. Die Haftanstalt, für 500 Insassen gebaut, ist derzeit mit 750 belegt. „Die meisten Kids fühlen sich da ganz wohl“, sagt Marlene Stern, Direktorin des „Citizen's Committee on the Juvenile Court“, einer Bürgerorganisation, die Prozesse beobachtet und Reformvorschläge einbringt. „Im Gefängnis werden sie nicht erschossen, haben ein Bett zum Schlafen und eine Schule, in der sie was lernen.“

In zwei Abteilungen – dem Kriminalgericht und dem Familiengericht – arbeitet unterdessen ein gigantischer Apparat von Sozialarbeitern, Bewährungshelfern, Richtern, Staatsanwälten, Verteidigern und Polizisten. In den vierzehn Verhandlungssälen des Familiengerichts werden Adoptionsanträge, Fälle von Vernachlässigung und Kindesmißhandlung gehört, jeder Richter muß bis zu 3.000 Akten im Monat bearbeiten. Die Anhörungen dauern durchschnittlich acht Minuten.

Einer 19jährigen wird in Saal 7 das Sorgerecht aberkannt, nachdem sie ihren Säugling halb verhungert in die Notaufnahme gebracht hatte. Nebenan muß sich eine Frau rechtfertigen, weil sie sich vier Tage ins Krankenhaus hat einweisen lassen, ohne ihren drei Kindern Bescheid zu sagen. Fünf Minuten später unterliegen alle der Obhut der Fürsorge.

Im Strafgericht bieten sich indes andere Szenen. Mit Handschellen aneinandergekettet, schlurfen fünf Halbwüchsige mit betont gelangweiltem Gesichtsausdruck zurück in die Haftanstalt, während im nächsten Saal die Verhandlung gegen einen Zwölfjährigen wegen mehrfachen Autodiebstahls zum zweiten Mal verschoben wird, weil der Zeuge der Anklage nicht erschienen ist. Der Anwalt eilt hinaus, um im Wartesaal nach seinem nächsten Mandanten zu suchen, einem 13jährigen, der wegen fortgesetzten Schuleschwänzens und Ausreißens vor den Richter soll.

Es ist derselbe Saal, in dem eine Richterin vor einigen Monaten einen Zwölfjährigen auf unbefristete Zeit in eine Jugendstrafanstalt einwies, weil er mit einem Freund einen Neunjährigen aus dem 13. Stock eines Hochhauses geworfen hatte. Das Opfer hatte sich geweigert, für die beiden Süßigkeiten zu stehlen. Wer mindestens fünfzehn Jahre alt ist und wegen Mordes, Vergewaltigung oder bewaffneten Raubüberfalls angeklagt ist, kommt in Illinois vor ein Erwachsenenstrafgericht. „Die Täter“, sagt Stern, „werden immer jünger“, die Strafen immer härter.

Rettende Strohhalme wie „Jobs for Youth“ sind viel zu rar. Das weiß auch Al Sanders, der hier für die Vermittlung der Arbeitsplätze zuständig ist. „Ob wir am Gesamtbild etwas ändern, weiß ich nicht. Aber bei denen, die wir erreichen, öffnen wir Türen, von denen sie nicht mal wußten, daß es sie gibt.“ Davon zeigte sich auch der Arbeitsminister bei seinem Besuch sehr beeindruckt, was allerdings nichts daran ändert, daß die Clinton-Administration ihren Bundeszuschuß an „Jobs for Youth“ um 200.000 Dollar auf 90.000 Dollar zusammengestrichen hat. Jack Connelly hat den Minister um einen Gesprächstermin bei seinem nächsten Besuch in Washington gebeten. Denn er würde von Robert Reich zu gern erfahren, ob in absehbarer Zeit wieder mit einer Politik gegen die Armut, und nicht gegen die Armen, zu rechnen ist.