■ Die Justiz, nicht die linksradikale Kritik, hat sich im Lübecker Prozeß blamiert. Eine Replik auf Jan Feddersen
: Lustvolle Ungewißheit

Gemeinhin gilt es in den alternativen Kreisen Deutschlands als überholt, die Wirklichkeit in den Kategorien „links“ und „rechts“ wahrzunehmen. Man ist vorn, frau denkt quer, es gibt die achtenswerten Tabubrecher und die bedauernswerten Fundamentalisten.

Nur manchmal sortiert einer noch die Interessengruppen wie in den guten alten Zeiten. Meist geht es dann darum zu veranschaulichen, daß die einen den anderen zum Verwechseln ähneln: „Die rechte Presse sorgt sich um das ,deutsche Ansehen‘ im Ausland... Die Linksradikalen schwadronieren von einer neuen Reichskristallnacht.“ So stand es am letzten Montag in der taz. Autor Jan Feddersen dagegen wähnt sich offenbar wohlbehalten in der Mitte, ein unparteiischer Schiedsrichter im „Krieg der Gewißheiten“. Eine symmetrische Welt: Rechte sind erleichtert, daß es keine Deutschen waren; Linke wissen nach Enthüllung der „schlampigen Recherchen“ der Lübecker Staatsanwaltschaft, daß es Rechte gewesen sein müssen. Und beide „machten den Brand unabhängig von den Flammen und ihren Opfern zu ihrer Sache. Schuld oder Unschuld spielen für die am Prozeß Unbeteiligten keine Rolle mehr“. Das Material für die These, „das linke Milieu“ nehme nur die Fakten, die ihm paßten, zur Kenntnis, ist dürftig: ein Leserbrief an die junge Welt, ein paar Zeilen eines junge Welt-Kommentators, das Vorwort zu einer Broschüre.

Tatsächlich hingegen gibt es in dem attackierten „linken Milieu" erhebliche Kontroversen: zum Beispiel über die Frage, wie mit dem Tatverdacht gegen die Grevesmühlener umzugehen sei. Daß hier durchaus die Unschuldsvermutung gepflegt wird, läßt sich auch in den Beiträgen von Miriam Lang und Wolf Dieter Vogel in „Der Lübecker Brandanschlag“ nachlesen.

So gerät auch aus dem Blick, was das Außerordentliche dieses Verfahrens ausmacht. Hier wurde einer aus der Gruppe der Opfer als Täter präsentiert, mutmaßliche Täter wurden dagegen offiziell rehabilitiert. Was 1993/94 in Bochum, Herford, Erbsendorf und Stuttgart vereinzelt schon im Abseits des öffentlichen Interesses versucht worden war, die Verantwortung für die Brände in Wohnungen und Wohnheimen von Flüchtlingen und Migranten den Bewohnern selbst anzulasten – hier ereignete es sich auf offener Bühne. Nachdem die Brandstiftungen in Mölln und Solingen weltweit als Signal dafür wahrgenommen worden waren, daß aggressiver Rassismus in Deutschland wieder Fuß faßt, diente dieses Zwischenresultat in Lübeck als Anlaß für allgemeine Entwarnung.

Nun läßt sich mit Recht einwenden, daß dieser ideologische Diskurs, der an die Ermittlungen der Lübecker Staatsanwaltschaft anknüpft, dieser per se nicht anzulasten ist. Vor allem kann das Ergebnis der Untersuchungen nicht davon abhängig gemacht werden, ob es ins politische Weltbild paßt oder nicht. Das Strafverfahren und die politische Auswertung seiner Resultate sind strikt voneinander zu trennen. Das setzt aber voraus, daß die Justiz – wenn auch als gesellschaftliche Institution keineswegs neutral – im einzelnen Verfahren zumindest weitgehend unvoreingenommen handelt, daß sie Be- und Entlastungsmomente gleichermaßen würdigt, kurz: dem Anspruch, den sie sich mit dem rechtsförmigen Verfahren selbst gestellt hat, gerecht wird.

Hier aber hat die Justiz mit allen Mitteln, auch denen, die das strafprozeßual Zulässige zumindest aufs äußerste strapazieren (dem Lauschangriff bei Besuchen), versucht Eid als Täter zu präsentieren. Zugleich hat sie jede erkennbare Möglichkeit wahrgenommen, belastende Indizien zugunsten der jungen Männer aus Grevesmühlen auszudeuten. Dieses Vorgehen, schneidige Gewißheit gegenüber Safwan Eid, der zurückhaltende Gestus gegenüber tatverdächtigen Deutschen – mit welchem Kalkül oder aus welcher unglücklichen Konstellation heraus es erfolgt sein mag – hat die Staatsanwaltschaft in diesem Verfahren zur Partei gemacht. Dagegen ist niemand, weder der Ermittlungsrichter noch die Vorgesetzten, eingeschritten.

Wenn die Ermittlungsbehörde nicht einmal den Anschein von Neutralität wahrt, sondern polarisiert, ist ein Angeklagter, will er sich nicht aufgeben, auf parteiische Unterstützung angewiesen. Safwan Eid hatte das Glück, daß etliche BewohnerInnen des abgebrannten Hauses, antirassistische Gruppen, einige wenige engagierte Journalisten und später eine vertraute Anwältin seine Interessen zur Geltung brachten – trotz der scheinbar so erdrückenden Beweislast und gegen die überwiegend veröffentlichte Meinung. Ohne diese Intervention hätte es kaum ein weiteres Brandgutachten gegeben, hätten die rätselhaften Umstände des Todes von Sylvio Amoussou keine bedeutende Rolle gespielt, wäre die Grevesmühlener Spur gänzlich im Sande verlaufen. Eid säße wohl noch heute wegen dringenden Tatverdachts in Untersuchungshaft.

Eids UnterstützerInnen sind dabei im großen und ganzen nicht so ideologisch vorgegangen, wie Feddersen behauptet – damit hätten sie die offizielle Version auch kaum so erfolgreich demontieren können. Auch wenn einzelne der vielen Aktionen und Flugblätter eine bedenkliche Tendenz zur Vorverurteilung der Tatverdächtigen aus Grevesmühlen aufzeigen, haben diese UnterstützerInnen vor allem gewährleistet, daß die Unschuldsvermutung gegenüber Eid wieder zum Tragen kam.

Versagt – und das ist noch die optimistischste Variante – hat also, will man im Bild der symmetrischen Welt bleiben, das „Milieu der Mitte“. Und die Konsequenz ist fatal: Die Aufklärung der tatsächlichen Ereignisse ist nach diesem fehlgegangenen Ermittlungsverfahren kaum noch vorstellbar. Der deutschen Mitte kann das recht sein: Kein Täter ist allemal besser als ein deutscher. Im Interesse der Überlebenden wäre es unbedingt notwendig, die Wahrheit herauszufinden. Statt dessen wird die Tat als Gelegenheit hergenommen, suggestive Szenarien auszumalen: „Was, wenn einer aus dem Haus doch mit Streichhölzern gespielt hat?“ (Feddersen). Im Krieg der Gewißheiten kann auch die Ungewißheit lustvoll als Waffe eingesetzt werden. Oliver Tolmein