„Es fehlt das Personal für Sexualstraftäter“

■ Der Psychiater Wilfried Rasch über Rückfälligkeit, Strafvollzug und Therapie

taz: Herr Rasch, seit der Aufklärung des Kinderschänderskandals in Belgien häufen sich die Fälle. Woran liegt das?

Rasch: Die Statistik zeigt, daß es keinen rasanten Anstieg gab. Es werden mehr Fälle bekannt, weil die Sensibilität zugenommen hat.

Führt dies nicht auch zu einer Abstumpfung?

Nein, die Bevölkerung ist wachsamer geworden. Paradoxerweise gibt es gleichzeitig Gruppen, die diese Praktiken mit Kindern intensiver fördern. Diese Branche hat sich als äußerst lukrativ erwiesen.

Ist mehr Öffentlichkeit nicht auch Werbung?

Ich glaube nicht, daß die Publicity Leute zu sexuellem Mißbrauch von Kindern animiert, zumal wir auch keine statistischen Belege für einen Anstieg haben.

Was sagen Sie zu der Ermordung von Natalie Astner?

Der Fall ist wirklich erschütternd. Man kann die Leute verstehen, die nach Rache rufen. Aber man weiß noch nichts über den Mann. Wenn er ein Wiederholungstäter ist, spricht einiges dafür, daß er tiefgehend gestört ist. Und keiner wendet Gewalt an, an dem nicht auch Gewalt angewendet wurde. Was mich wundert, ist, daß er nach zwei Drittel seiner Haftzeit entlassen wurde.

Wie hoch ist die Rückfallquote bei Sexualtätern?

Mindestens jeder zweite wird rückfällig. Das ist aber auch bei Eigentumsdelikten so.

Müßten Sexualtäter dann nicht länger eingesperrt werden, um potentielle Opfer zu schützen?

Es gibt zwar viele Straftäter, bei denen ein Reifungsprozeß einsetzt und die Rückfallgefahr in der Haft sinkt. Doch der eigentliche Mangel liegt darin, daß man nicht hinreichende differenziert: Sexualtäter ist gleich Sexualtäter. Bei dem einen ist es der Ausrutscher eines Jugendlichen, der noch nicht gelernt hat, mit seiner Sexualität umzugehen. Bei dem anderen liegt eine tiefe Störung vor. Bei der letzten Gruppe müßte man den Freiheitsentzug verlängern und psychotherapeutische Methoden anwenden.

Gibt es Behandlungsmethoden?

Ja. Aber die Behandlung von Sexualtätern ist eine unheimlich komplizierte Aufgabe, und wir haben dafür nicht das geeignete Personal. Berlin beispielweise ist das Land mit den meisten Psychologen im Strafvollzug. Doch ob diese Leute mit derartig schwer geschädigten Persönlichkeiten umgehen können, ist fragwürdig.

Geht die Tendenz im Strafvollzug zu früherer Entlassung oder härterer Bestrafung?

Gerade jüngere Leute möchte man nicht durch den Strafvollzug weiter schädigen und läßt sie laufen. Andererseits neigen Gerichte – auch durch den Einfluß der Frauenbewegung – dazu, bei Vergewaltigungen von Frauen zu einem höheren Strafmaß zu greifen.

Die hohe Rückfallquote heißt doch, daß der Strafvollzug versagt.

Genau. Es zeigt, daß unsere Mittel äußerst begrenzt sind.

Warum setzt man dann nicht auf Resozialisierung?

Im Rahmen der Strafrechtsreform Ende der 60er Jahre war vorgesehen, sozialtherapeutische Anstalten für diese Tätergruppen zu schaffen. Das alles hat man fallengelassen, teilweise aus finanziellen Gründen, teilweise, weil man sowieso dagegen war, teilweise weil man behauptete, das nützt sowieso nichts. Heute werden solche Leute weggesperrt; Gott sei Dank endet der irgendwann. Für zweifelhaft halte ich, daß dazu lediglich eine richterliche Einschätzung nötig ist, so wie im Fall des mutmaßlichen Mörders von Natalie Astner. Interview: Karin Gabbert