Dornröschen schläft nicht mehr

Von Anfang an prägten Frauen den Kampf gegen die Atommüllanlage in Gorleben. Heute sind mehrere Generationen im Widerstand aktiv  ■ Von Ulrike Helwerth

Widerstand. Dieses Wort ist aus der politischen Rede fast völlig verschwunden. Hier im Wendland ist es ständig in aller Munde: ob Hausfrau, Lehrerin oder Bäckerin, Bauer, Pastor oder Postbote, ob Großmutter oder Gymnasiastin, alle reden fast liebevoll vom „Widerstand“. Heute kommt er auf den Straßen des Landkreises eher als Volksfest daher. Hinter der Kreuzung in Gorleben, dort, wo die Straße zum Zwischenlager abzweigt, hat sich die „Initiative 60“ am Straßenrand installiert. Das Durchschnittsalter der ziemlich schrägen Truppe dürfte die 70 längst überschritten haben. Die alten Leute haben Tafeln aufgestellt oder umgehängt, auf denen die Fotos von Enkeln und Urenkeln an die Zukunft gemahnen. Aber genauso geht es ihnen um die Gegenwart. Denn „das wäre ein langweiliges Dasein, wenn wir den Widerstand nicht hätten. Ich wäre heute sonst total depressiv“, sagt Lilo Wollny, lacht dabei und schüttelt ihre graue Mähne. Wie die meisten hier in der Gruppe ist die 70jährige seit Anfang dabei. Sie lebt in einem Nachbardorf von Gorleben. Ihre Großeltern hatten dort eine Bäckerei mit Landwirtschaft, und sie kam als Kind in den Ferien aus Hamburg zu Besuch. Hier blieb sie nach dem Krieg hängen, übernahm später mit ihrem Mann das Geschäft und zog fünf Kinder groß. Als 1977 Gorleben zum Standort für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ erklärt wurde, war ihr die Atomenergie noch ziemlich gleichgültig. Aber sie hatte Angst, daß die geplante Anlage ihr „Paradies“ an der Elbe zerstören würde. Deswegen schloß sie sich den AKW-GegnerInnen an. Bald schon war sie im Vorstand, später Pressesprecherin. 1986 wurde sie als parteilose Kandidatin der Grünen in den Bundestag gewählt und saß dort bis 1990. Heute ist sie nicht nur in Sachen Atomenergie beschlagen. Sie kennt die Mechanismen der Politik innerhalb und „außerhalb von Institutionen“, ist in der Welt herumgekommen und hat „viel gelernt“. Zu ihren größten persönlichen Erfolgen zählt, daß Hildegard Hamm- Brücher eines Tages zu ihr kam und sagte, „ich hätte sie vom Saulus zum Paulus bekehrt. Das nächste Mal würde sie mit mir zur Demonstration nach Wackersdorf fahren.“ Zwar ist es dazu nie gekommen, denn bald darauf wurden auch in Wackersdorf die Pläne für eine atomare Wiederaufbereitungsanlage fallen gelassen, aber, sagt Lilo Wollny, „darauf bin ich immer noch stolz, denn die Frau war es wirklich wert“.

Am Standort der „Ini 60“ pulsiert das Leben. Jung und alt, Einheimische und Zugereiste pilgern vorbei zum Platz vor dem Zwischenlager. In der ersten Klappstuhlreihe sitzt Marianne Fritzen mit einer karierten Decke über den Knien. Wie Königinmutter nimmt sie die bunte Parade ab, amüsiert und auch ein bißchen gerührt. Manche nennen sie „die große alte Dame des Widerstands“. Auch wenn „groß“ und „Dame“ auf die 72jährige kleine, zierliche Person schwerlich zutreffen. Im Landkreis zu Hause ist die Elsässerin mit ihrer Familie seit Mitte der fünfziger Jahre. Anfang der siebziger Jahre plante die SPD- Regierung unweit von Gorleben ein Atomkraftwerk an der Elbe. Dagegen regten sich die ersten Proteste. Rund zwei Dutzend Leute gründeten eine Bürgerinitiative. Marianne Fritzen, Hausfrau und Mutter von fünf Kindern, war dabei, denn „ich muß etwas außerhalb des Hauses machen, um glücklich zu sein“. Jahre später übernahm sie den Vorsitz der „BI“. Die BI war von Anfang an das Zentrum des Widerstands, ihr Rückgrat die Frauen. Und so ist es über nunmehr 20 Jahre geblieben, über heiße Phasen und Flauten hinweg. „Dieser Widerstand ist von Frauen geprägt worden“, sagt Marianne Fritzen. Und: „Die einzige Linie, die wir nie verlassen haben, ist die der Gewaltfreiheit.“ Auch wenn dieses Prinzip nicht immer einfach aufrechtzuerhalten war und in den ersten Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen vor allem zwischen K-Gruppen und sonstigen Autonomen und der als „bürgerlich“ verschrienen BI führten. „Organisiert wurden die Aktionen von anderen, den Kopf hingehalten dafür habe meistens ich“, erinnert sich Marianne Fritzen, die sich inzwischen aus der ersten Reihe zurückgezogen hat. „Ich kann mich zufrieden zurücklehnen, ohne Wehmut, daß ich nicht mehr mitmache“, sagt sie. Doch oft genug ist sie noch dabei und vorne weg, wenn auch die Hauptverantwortung inzwischen auf die nächste und übernächste Generation übergegangen ist.

Und die Konflikte bei diesem Transfer? „Unser Widerstand hat einen gemeinsamen Nenner, die Abschaffung dieses Atomprogramms, und der hält die verschiedensten Menschen zusammen“, antwortet Birgit Huneke, die derzeitige erste Vorsitzende der BI. Die 37jährige aus Hamburg zog es Anfang der achtziger Jahre wie viele StädterInnen mit mehr oder weniger romantischen Vorstellungen vom „alternativen Landleben“ ins Wendland. Zwar haben sich ihre Träume vom repressionsfreien Gemüse und selbstgemachtem Ziegenkäse inzwischen gelegt – sie arbeitet heute in einem Buchladen und schreibt nebenbei Drehbücher für Kinderfilme –, aber sie hat hier Wurzeln geschlagen, zwei Töchter geboren. Ihr Engagement gegen die Atomanlage in Gorleben habe allmählich ihren Alltag übernommen, denn „wo ich Ungerechtigkeit spüre und Widerstand angesagt ist, werde ich aktiv. Die Atomfrage ist eine moralische und politische Frage, die ohne den Protest mutiger Menschen nicht zu lösen ist“, sagt Birgit Huneke.

Mut. In dem konservativen und abgeschiedenen Landstrich an der Elbe, der bis 1989 auf drei Seiten von der DDR eingezäunt war, gingen die Uhren lange anders. „Früher hat sich unser Landkreis in einer Art Dornröschenschlaf befunden. Daraus hat uns Gorleben ziemlich brutal geweckt“, sagt Susanne Kamien. Die 38jährige Kauffrau stammt aus einer alteingesessenen Familie und ist stolz auf ihr wendisches Blut, denn schließlich hätten sich die slawischen Wenden schon seit jeher gegen die germanische Obrigkeit zur Wehr gesetzt. Einige Jahre war sie BI- Vorsitzende, heute ist die Grüne stellvertretende Bürgermeisterin von Lüchow. Inzwischen ist die „Bäuerliche Notgemeinschaft“ der Anti-Atom-Bauern ihre Lieblingsgruppe.

Zur heutigen Blockade ist der „alteingesessene bodenständige Widerstand“ allerdings nur mit einer kleinen Formation Treckern vorgefahren, denn die Ernte ist in vollem Gange. „Aber wenn der nächste Castor kommt, werden mehr Bauern denn je dabei sein“, prophezeit Susanne Kamien. Doch gehört immer noch Mut zu dem öffentlichen Protest. Denn hier auf dem Land fehlt jeder Schutz großstädtischer Anonymität. Hier kennt jede jeden. „Wenn wir früher eine Aktion gemacht haben“, erzählt Marianne Fritzen, „konnte ich sicher gehen, daß mich am nächsten Tag jemand in der Stadt dafür zur Rede stellte.“ Gorleben hatte damals Dörfer, Familien und Freundschaften entzweit. Inzwischen aber ist die Mehrheit der lokalen Bevölkerung gegen die Atomanlage und selbst die örtliche CDU in der Atomfrage uneins. Die polizeilichen Gewalteinsätze während der ersten beiden Castor- Transporte haben einen Gutteil dazu beigetragen. „Die letzten zwei Jahre“, erklärt Susanne Kamien, „haben den Widerstand unglaublich zusammengeschweißt.“

Und geprägt haben ihn die Frauen, und das bereits in der dritten oder vierten Generation. Warum? Weil Frauen ein bißchen mehr denken und sich mehr um das Schicksal ihrer Kinder sorgen, sagt Lilo Wollny, die Ex-Bundestagsabgeordnete. „Weil Frauen motivierter sind und nicht so technikgläubig wie Männer“, meint Marianne Fritzen, die BI-Mitgründerin. Weil Frauen hierbei ihre Beziehungsfähigkeit und Stärke in vielfältiger Weise einsetzen können, hat Birgit Huneke, die BI- Vorsitzende, erfahren. Weil Frauen Leben gebären, die größeren Kämpfer sind und mehr Zeit haben, vermutet Susanne Kamien, die stellvertretende Bürgermeisterin, fügt aber gleich hinzu: „Ohne unsere Männer wären wir überhaupt nix.“ Eines aber kann sich keine vorstellen – ein Leben ohne „Widerstand“.