■ Der Europarat debattiert heute die Bioethik-Konvention. Damit werden bedrohliche biotechnische Eingriffe legal
: Wem gehört der Mensch?

Der Biochemiker Erwin Chargaff weiß, wovon er spricht: „Einige der größten Greuel sind unter dem Vorwand oder mit der wirklichen Absicht begangen worden, der leidenden Menschheit zu helfen.“

Die Diskussion um die europäische Bioethik-Konvention ist symptomatisch für die Widersprüchlichkeit moderner Biotechnologie. Wem dient die Forschung an nicht zustimmungsfähigen Kranken und Behinderten oder an menschlichen Embryonen? Welche Keimbahnenmanipulationen und Gentests bedrohen oder nützen dem einzelnen Menschen?

Auffällig jedenfalls ist, mit welcher Geheimniskrämerei und mangelnder Transparenz die „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin“ entstanden ist. Die seit 1985 arbeitende Expertengruppe arbeitete jahrelang unter Ausschluß und aktiver Ausgrenzung der interessiert nachfragenden Öffentlichkeit. Die Publikation der Entwürfe im Mai 1994 und im September 1995 wurden gar als „demokratische Indiskretion“ gebrandmarkt. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Selbstgerechtigkeit Institutionen der europäischen Demokratie öffentliche Debatten ihrer Entscheidungen zu verhindern suchen und damit dem Souverän die Möglichkeit nehmen, Demokrat zu sein. Eine zivile Bürgergesellschaft wird durch solche Verfahrensweisen nachgerade konterkariert.

Die Bioethik-Konvention soll nach ihrer Präambel die Würde und die Identität aller Menschen schützen und jedermann garantieren – ohne Unterschied –, daß seine Integrität, seine menschlichen Rechte und Freiheiten gewahrt werden. Das Wohl des einzelnen Menschen habe Vorrang vor den Interessen von Gesellschaft und Wissenschaft. Dies klingt gut, wenn nicht über Ausnahmeregelungen die formulierte Absicht ins Gegenteil umschlagen würde.

Nicht einwilligungsfähige Kranke und Behinderte sollen nämlich ohne potentiellen Nutzen für die Betroffenen beforscht werden. Vehement vertreten die Psychiater Hanfried Helmchen aus Berlin und Hans Lauter aus München diese Position. Sie möchten Demenzkranke gegen deren Willen beforschen, wenn es der Wissenschaft dient. Und auch an menschlichen Embryonen sollen Eingriffe erlaubt sein, wenn es Forschungsinteressen nützt. Wann Gentestergebnisse weitergegeben werden dürfen, ist noch immer unklar, und auch Manipulationen am menschlichen Genom, an der Keimbahn, sollen moralisch zulässig sein.

„Ethisch ist, was gemacht werden kann“, heißt also die Devise von Politik und Forscherehrgeiz. Die Bioethik-Konvention läuft Gefahr, industrielle Interessen mehr zu schützen als die Menschenwürde. Und damit ist die zentrale Frage für die Biotechnologie aufgeworfen: Wem gehört der Mensch?

Es gab Zeiten, in denen der einzelne Mensch, einem Fürsten oder König untertan, keine eigenen Rechte hatte. Auch dem lieben Gott zu gehören war eine kulturelle Haltung im europäischen Raum. Aufklärung und Demokratie ließen die Erkenntnis wachsen, daß der Mensch sich selbst gehört und über das unveräußerliche Recht verfügt, autonom sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen zu regeln. So wurde der Bürger in sozialer Verantwortung zum Leitbild der europäischen Kultur.

Die Bioethik-Konvention ist nun als das erste gravierende Anzeichen für eine grundlegende Umkehr dieses gesellschaftlichen Konzeptes und politischen Common sense. Der einzelne Mensch gehört der Bioethik-Konvention zufolge der Wissenschaft, dem Staat oder den industriellen Verwertungsinteressen.

Damit übernimmt das Profitmotiv und nicht mehr die Menschlichkeit die Herrschaft über das individuelle Wohl und die Normen der medizinischen Praxis. Die bisherige „Ethik der Würde“ wird zu einer „Ethik der Interessen“ umdefiniert. Der einzelne Mensch ist nichts mehr, wenn es den Arbeitsplätzen der Industrie oder den Wachstumshoffnungen bei globalen Märkten dient.

„Medizin und Gewissen“ heißt der Kongreß von kritischen Medizinerinnen und Medizinern, der zum 50. Jahrestag der Nürnberger Ärzteprozesse im Oktober stattfindet. In der Tat geht es darum, daß gewissenhafte Medizin sich gegen die Interessen des Profits wendet. Die Ärzteschaft muß eine selbstbewußte soziale Integrationsaufgabe übernehmen. Im Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft darf ein Arzt nicht zum Exekutor gesellschaftlicher Mehrheitsinteressen gegen den einzelnen Menschen werden.

Die Möglichkeiten der Bioethik sind nur mit Menschlichkeit und demokratischer Verfaßtheit von Gesellschaften vereinbar, wenn sie außerhalb des kapitalistischen Profitgefüges einem „Non-Profit“- orientierten gesellschaftlichen Sektor zugeordnet sind. Menschlichkeit oder profitabler Egoismus über alles – das sind die Gegensätze, an denen die europäische Kultur in den nächsten Jahren zerbrechen kann. Mit dem Untergang des Sozialismus ist die soziale Frage nicht gelöst, sie stellt sich neu. Das bedeutet: Biotechnologie muß aus den kapitalistischen Verwertungsinteressen herausgelöst werden. Dies wäre ein Entwicklungssprung in der europäischen Kultur. Ich wünsche mir, daß Deutschland – gerade angesichts der erworbenen Schuld im Nationalsozialismus – mit geschärftem Gewissen an diese Aufgabe herangeht. Gewissenhaftigkeit im Umgang mit medizinischer Technologie ist die menschliche Herausforderung, an der vergangene Verbrechen an der Menschlichkeit für die Zukunft wiedergutgemacht werden können. Hier sind insbesondere Mediziner und Ärzte gefragt, weil sie technologisch über die Möglichkeit verfügen, Leben am Anfang und am Ende zu manipulieren.

Die Bioethik-Konvention in der gegenwärtigen Fassung abzulehnen erfordert mehr Mut, als ihr zuzustimmen. Deutschland könnte hier ein Zeichen setzen. Was wir nun bräuchten, wäre eine Bundesregierung, die über genug Zivilcourage verfügen würde, dies zu tun. Ellis Huber