Die große Konfrontation

■ Israels Premier Netanjahu provoziert Eskalation

Die Frage war nicht, ob, sondern wann und wie. Seit dem Regierungsantritt von Bibi Netanjahu war klar, daß der Vertrag von Oslo tot ist. Netanjahu dachte gar nicht daran, Israels Verpflichtungen zu erfüllen. Er hätte laut Vereinbarung sofort den großen Teil der Stadt Hebron räumen, alle palästinensischen weiblichen Häftlinge sofort entlassen, die „sichere Passage“ zwischen Gaza und dem Westjordanland sofort öffnen und die Verhandlungen über Jerusalem, die Flüchtlinge, Siedlungen und Grenzen sofort aufnehmen müssen. Nichts davon geschah.

Netanjahu versprach und versprach und versprach. Statt dessen kurbelte er den Siedlungsprozeß wieder an. Die Absperrung, die Hunderttausende Palästinenser an den Rand des Hungers brachte, wurde aufrechterhalten. Das Geld, das Europa und Amerika versprachen, kam nicht an.

Im palästinensischen Volk speicherte sich die Wut. Nur eine kleine Provokation hätte genügt, diese Explosion auszulösen – der sprichwörtliche Strohhalm, der dem Kamel den Rücken bricht. Aber was passiert ist, war keine kleine Provokation.

Heute fragen sich viele Israelis: Ist Netanjahu einfach dumm? Oder wollte er diesen Ausbruch, um den Friedensprozeß endgültig zu zerstören? Jeder, der auch nur die geringste Ahnung hat, weiß, daß der Tempelberg in Jerusalem der allerempfindlichste Ort im Lande ist. Die heiligen Stätten – der prächtige Felsendom und die sagenhafte Al-Aksa-Moschee – vereinen alle Palästinenser, Nationalisten und Fundamentalisten, Pro- und Anti-Arafatisten.

Es ist ganz egal, ob der jetzt von Netanjahu eröffnete Tunnel wirklich die Heiligtümer gefährdet oder nicht. Für die Palästinenser ist die Öffnung ein Symbol der Verletzung ihrer heiligsten Gefühle. Dieser Ausdruck israelischer Überheblichkeit ist eine unmißverständliche Erklärung, daß Verständigung und Versöhnung undenkbar sind.

Die Unruhen sind keine zweite Intifada, denn die Intifada (Abschüttelung) war waffenlos. Jetzt existiert eine palästinensische „Selbstregierung“, ein Staat im Werden mit 40.000 Soldaten, die nicht tatenlos zusehen können, wenn israelische Soldaten auf palästinensische Demonstranten schießen. Ein neues Kapitel beginnt. Die Palästinenser nennen es: die Konfrontation. Uri Avnery