Sachsen pilgern zu Reliquien von Steiner

■ 200 Jahre Homöopathie im Deutschen Hygienemuseum Dresden. Anhänger ganzheitlicher Medizin trafen sich zur Anthroposophischen Woche

Oberlehrer Oswalt Kolle behält das letzte Wort. Wenn Samuel Hahnemann das noch erleben müßte, seufzt die Besucherin aus Delmenhorst, daß hier, ausgerechnet neben seinem Erbe, diese Ausstellungen zu den Themen „Pille“ und „Impfungen“ gezeigt werden. Womöglich würde er sich im Grabe drehen. In Paris, wo der Arzt, Begründer der Homöopathie und Vater von elf Kindern, seit 1843 liegt.

Ausstellungen im Deutschen Hygienemuseum Dresden können immer noch Exkurs sein und Provokation. Vergnügen auch. Also lustwandelt man zwischen Kirchenkampf und APO-Sex, Ost- Schnabel und West-Kolle, Lust und Liebe, durch dreieinhalb Jahrzehnte „Geschichte der Anti-Baby-Pille“, bevor man eintritt in die Apotheke der geheimnisvoll-heilenden Substanzen. Von der Verhütungspraxis zur Heil(s)lehre.

Anthroposophen aus ganz Ostdeutschland schöpften dort neue Kraft, und das nicht nur wegen dieser Reliquien unter den Ausstellungsexponaten: zwei von Rudolf Steiner während eines Vortrages gezeichnete Schulwandtafeln. Mit einem „Mistel-Tag“ endet heute die von der Regionalgruppe Ost der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte veranstaltete „Anthroposophische Woche“. Laien und WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und Patienten diskutierten vor dem Hintergrund der Homöopathie-Ausstellung über „Anthroposophische Medizin in einer sich wandelnden Welt“ – Thema des Eröffnungsvortrags von Volker Fintelmann, leitender Arzt am Krankenhaus Rissen, Hamburg.

Anthroposophie gehe zwar von „einem deutlich anderen therapeutischen Ansatz“ aus als Homöopathie, sie verdanke ihr aber „sehr viel“, begründete Tagungsleiter Andreas Ossapofsky Zeit und Ort des Treffens. Beide alternativen Heilmethoden würden „einander ergänzen“ – und, so die tägliche Praxis des Radebeuler Arztes, auch im Osten wachsende Nachfrage erfahren.

In der DDR überlebte die Homöopathie nur halb legal, praktisch am Rande von „Aberglaube und Kurpfuscherei“ – so 1959 der Titel einer „aufklärenden“ Ausstellung im Hygienemuseum. Wenn heute am gleichen Ort, gemeinsam mit der Robert-Bosch- Stiftung Stuttgart, Homöopathie als 200jährige Kulturgeschichte erzählt wird, dann kehrt diese unkonventionelle Heilkunde gleichsam aus dem Exil in ihre einstige Hochburg zurück. Christian Friedrich Samuel Hahnemann, ihr Begründer, wurde 1755 in Meißen geboren. Das Geburtshaus steht noch, am Hahnemannplatz. Sachsen war bis zur Nazizeit Zentrum der homöopathischen Bewegung in Deutschland.

Die Dresdner Jubiläumsausstellung leistet erstmals eine Gesamtdarstellung der Homöopathie als erfolgreiche wie umstrittene Therapiemethode: Der Streifzug beginnt bei den Wurzeln in der medizinischen Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, führt über Ärztestreit und Laienbewegung zur Vereinnahmung durch die „Neue Deutsche Heilkunde“ der Nationalsozialisten bis hin zu aktuellen Tendenzen und Streitthemen.

Dazu gibt's ein Raritätenkabinett authentischer Objekte: ganze Regalreihen von Apothekengläsern mit Pflanzen- und Tierpräparaten, die Besteckkästen der Bader und Wundärzte, anatomische Klapptafeln des 16. und 17. Jahrhunderts, handschriftliche Manuskripte und die Taschenapotheke Hahnemanns, daneben Dokumente von Laienvereinen und Feldpostbriefe zur homöopathischen Behandlung an der Front des Ersten Weltkriegs.

Drei perspektivisch versetzte Leuchtkästen konzentrieren im ersten Raum alle Blicke auf Blau: Sinnbild für die „Potenzierung“ homöopathischer Heilsubstanzen. Bei dieser Methode werden Wirk- und Trägersubstanz in immer kleiner werdendem Anteil mit Wasser vermengt, verschüttelt, verrieben und – so die homöopathische Lehre – in der Wirkung „dynamisiert“. Ein taz-Beitrag von Mathias Bröckers: „Das Gedächtnis des Wassers“, beschließt die Exkursion. In dem auf Plakatformat vergrößerten Text werden Experimente französischer Molekularbiologen behandelt, die eine neue Runde im Streit um die „Wirkkraft wirkstoffloser Verdünnungen“, um Erfolg und Scharlatanerie der Homöopathie eröffneten. Detlef Krell

Homöopathie 1796–1996.

Deutsches Hygienemuseum Dresden, bis 20. 10., Tel.: 0351/4846670