: Verführerische Sprache
Die Heimat im Einmachglas. Eine Reise in die Region der Melancholie mit Irena Brezná: Reportagen aus Mittel- und Osteuropa ■ Von Rosemarie Seidel-Zöller
Alles beginnt noch einmal. Alles war schon einmal da. Nach mehr als 20 Jahren taucht es wieder auf. Ende 1989. Die Journalistin Irena Brezná reist in die samtene Revolution ihrer ehemaligen tschechoslowakischen Heimat. Sie reist nach Prag, Bratislava, Kaschau.
Die angstvollen Fragen der Kindheit drängen wieder hervor. Wo bin ich, wer bin ich? Im ersten Teil der Reportagensammlung „Falsche Mythen“ sind wir Irena Brezná, sehen wir aus ihrer Sicht, im zweiten Teil sind wir in Begleitung von Irena Brezná.
Zwischen 1989 und 1996 sind diese Reportagen aus dem ehemaligen Ostblock entstanden. Geschrieben wie unter einem sprachlichen Vergrößerungsglas. Auf der Suche nach einer Antwort auf Milan Kunderas Buchtitel „Das Leben ist anderswo“?
„Über den Fernsehschirmen wälzte sich Abend für Abend das Glück. Ein rundes. Ein skandierendes ...“ Und der aufgeschreckte Sohn im Schweizer Heimatland: „Wo willst du hin? Warum dieser Dubček? Dieser Havel? Warum so eine Mutter? ... Es hatte sie im letzten Jahrzehnt nicht mehr gegeben, diese Republik ... Nur die Muttersprache blieb, mit der ich meine Kinder wie mit einer Schattennahrung fütterte, eine absurde Sprache ohne Nährboden, die wie von Eingebungen aus einer früheren Inkarnation lebt, Worte, die ich zweifelnd weitergab, als hätte ich sie erfunden.“
Die Heimat im Einmachglas, lautlose Vietnamesenmorde, das Absurde und das Vakuum nach dem Verschwinden des Feindes und – „das Weinen ..., es gehört in diesen Breitengraden zum Inbegriff der Glückseligkeit“.
Und wir sind dabei. In der Küche, bei der Freundin mit dem Wodkaglas und dem Rücken der mongoloiden Tochter, der so schamlos nach Zärtlichkeit verlangt. Wir Leser sind so dicht bei den Bildern der Autorin, daß wir selbst nicht mehr wissen, wer denn hier in freier Assoziation unseren Voyeurismus lebt. Sie oder ich. So weich sind die Übergänge.
Irena Brezná schreibt über die Heimat in der Sprache, die Gefahr der eigenen Auflösung in der Muttersprache, himmlische, angsteinflößende, gefühlvolle Sprache. Der Ort ihres Sprechens, jenseits der Heimat: das Dunkelblau des Schweizerdeutschen, die Sprache ihrer Kinder. Schlaglichter. Weichheit und Schönheit als Kriterien der slowakischen Sprache. In diesen Reportagen kann man sie ahnen, die Präzision der Ironie und der Distanz, aber auch das: „Das ist Mitteleuropa, die Region der Melancholie.“
Eine Begegnung mit Libuše Moníková in Berlin 1992. Zwei Sprachschmugglerinnen treffen sich im leergeschenkten Schreibzimmer beim Wein. Sie schreibt deutsch. Das hilft. Das hat auch Irena geholfen.
Sprachbilder. „Die Faszination der Sprachen für mich ist körperlich, ich empfange die Sprache zuerst mit der Haut, dann gießt sie sich in Bilder, in neue Körper hinein.“ Wir erfahren, warum alles so nah erscheint: „Ich war ein slowakisches Mädchen ... Ich war zunächst mal stumm. Das Schreiben fing dort an. ... Ich ziehe die deutsche Sprache an. Sie ist nicht meine Heimat geworden, sondern ein Geschenk des Zufalls. Ich habe bei ihr Zuflucht gefunden vor der klebrigen, verführerischen Muttersprache, von der ich mich jedesmal mit viel Kraft losreißen muß.“
Mit der Reportage „Das Reich des unendlichen Provisoriums“, die Slowakei am Vorabend ihrer Unabhängigkeit, enden die Reiseberichte aus der alten Heimat, in der doch ein anderes Raum- und Zeitverständnis beginnt. Die Ästhetik der Abbildung als Grammatik der Bilder.
Den Profifotografen der Hamburger Agentur war das entgangen. Sie kehrten nach zehn Tagen mit harten Bildern zurück. Mit Bildern, die scharfe Konturen haben.
„Beim Übersetzen aus dem Deutschen in die slawischen Sprachen arbeitet man auflösend, ... Konturen dehnen sich, verschwinden.“ „Slowakische Kinder wissen, daß das Märchen zwei Lösungen anbietet, wenn der Recke Janko auf den Scheideweg kommt: Gehst du rechts, wird es dir schlecht gehen, gehst du links, wird es dir noch schlechter gehen. Die Illusion des guten und eindeutigen Weges gab es hier nie.“ Befragt man einen slowakischen Bauern nach seinem Eindruck: „Einerseits ist dies schlecht, andererseits nicht schlecht.“ Wir wissen: „In der Slowakei ist der Mensch vor der Endstation ausgestiegen, denn er glaubt nicht an die Chimäre eines Ziels. Er schlendert auf einem verkommenen Bahnhof irgendwo dazwischen.“
Im zweiten Teil bereisen wir mit der russisch sprechenden Irena Brezná die ehemalige Sowjetunion. Das Vergrößerungsglas ersetzen wir durch eine gute Brille. Wir treffen ehemalige Dissidenten als selbstproduziertes Gewissen des Sowjetimperiums, wir beobachten die Rückkehr der Krimtataren, begleiten den Menschenrechtler Sergei Adamowitsch Kowaljow, begegnen Wladimir Wolfowitsch Schirinowski im Lift und besuchen den Paten Pudel in Chabarowsk.
Wir sehen die Funktion des Gulag als kulturprägendes russisches Phänomen, aber auch als eine Gefahr überall dort, wo der Konformismus den Widerstand der Menschen besiegt hat.
Irena Brezná hält uns an ihrer warmen slawischen Brust und zeigt uns, was wir nicht wissen von Mittel- und Osteuropa. Sie gibt Einblicke: Spannend, sinnlich und wunderbar geschrieben. Rosemarie Seidel-Zöller
Irena Brezná: „Falsche Mythen. Reportagen aus Mittel- und Osteuropa nach der Wende“, eFeF-Verlag, Bern, 32 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen