Antarktische Geisterstunde

Die Schaubühne hat die Größten versammelt, um ein Jugendstück von Vladimir Nabokov uraufzuführen. „Der Pol“ erzählt vom Tod der englischen Südpolsucher um R.F. Scott im Jahre 1912  ■ Von Petra Kohse

Eisscholle. Das Wort macht gleich ein bißchen glücklicher. Kinderträume vom Urmel und einer Sonderration Dolomiti werden wach, unter Polarhimmeln glitzert die Weiße, mächtige Inseln treiben, mit Seehunden oder Pinguinen beladen, freundlich vorbei.

Eisschollen also. Die Bühne im Saal A der Schaubühne ist derzeit voll davon. Wobei jeglicher Polkappenromantik aber gleich gründlich heimgeleuchtet wird. In bösem Rosa oder noch böserem Grün ziehen phosphoreszierende Nebel über die Eiswüstenbrocken von Gilles Aillaud, und ab und zu wird an der rückwärtigen Aluminiumwand für wenige Augenblicke die zitternde Projektion eines Segelschiffes sichtbar. An dieser Endstation der Sehnsucht besteht das Glück nur noch in der Halluzination, von hier wieder wegkommen zu können. Eine Seelenlandschaft der Vergeblichkeit, über die es nichts weiter zu sagen gäbe, wäre da nicht dieser rätselhaft rote Lichtpunkt. An der gleichen Rückwand links unten hält er sich die ganze Zeit über fest und läßt sich ohne Geschichte nicht erklären. So kann das Theater beginnen.

Rechts steht ein Zelt, in dem vier Männer kauern: Die Wüste lebt – wenigstens gerade noch. Scott, Fleming, Kingsley und Johnson kommen aus genau der Richtung, aus der auch der Lichtstrahl herzukommen scheint: vom Südpol. Seit sie ihn im Januar 1912 erreichten, können sie an nichts anderes mehr denken, als daß bei ihrer Ankunft bereits die norwegische Flagge klirrte. Amundsen und seine Männer waren schneller als das englische Team. Das sitzt und macht den Rückweg, zumindest für Captain Scott, zur sinnlosen Qual. Die Antarktis, der zuvor jeder seiner Atemzüge galt, ist nun der Feind und nicht mehr als das. Trotz mangelnden Proviants und Wundbrand an den Füßen haben sie es zwar geschafft, das Festland wieder zu verlassen und auch einen großen Teil des Rossmeer-Eises zu überqueren, jetzt aber geht es nicht weiter. Alles, was bleibt, sind Aufzeichnungen – für die Nachwelt. Zeit, zu sterben.

Durch gravierende Planungsfehler und schlechte Ausrüstung hätte Captain Scott sein Leben und das seiner letzten Begleiter wissentlich aufs Spiel gesetzt, urteilt der Engländer Roland Huntford in einer Ende der 70er Jahre erschienenen Untersuchung über Dichtung und Wahrheit der historischen Südpolexpeditionen von Scott und Amundsen. Vladimir Nabokov, den die Lektüre von Scotts Tagebüchern so bewegte, daß er 1923 einige Dialoge dazu verfaßte, konnte das noch nicht wissen. Jahrzehntelang galt der Verlierer Scott als moralischer Sieger, als heroisches Opfer widrigster Umstände.

In all dem steckt eine Menge Ewigkeitsstoff, und es verwundert nicht, daß sich für die neueste Schaubühnenarbeit, die eine Koproduktion mit dem Pariser Festival d'Automne ist, ganz große, nein: die größten Namen versammelt haben. In der Landschaft von Gilles Aillaud inszenierte Klaus Michael Grüber die Uraufführung eines Jugendwerks von Vladimir Nabokov, dessen Übersetzung von Botho Strauß bearbeitet wurde. Musik von György Kurtág wird auf der Bühne intoniert, und die Rolle des Scott spielt selbstredend Bruno Ganz. Der Programmzettel beeindruckt nach Gebühr. Dann aber beginnt das Spiel.

Der Text ist schlecht. Nabokov hin, Strauß her, ein Stück, in dem der Held kurz vor seinem Tod folgende Worte spricht, ist schlecht: „Ich muß beten. Das Tagebuch, mein Trost und meine Pflicht. Mein getreues Stundenbuch. Ich schlag's mal in der Mitte auf.“ Und dann schlägt er es tatsächlich in der Mitte auf und liest vor. Grübers Texttreue gerät hier zum künstlerischen Harakiri.

Bruno Ganz versucht die Dürre der Worte durch gelegentliches Jaulen zu übertönen, aber das gelingt nicht. Robert Hunger-Bühler als delirierender Kingsley, Sven Walser als klumpfüßiger Johnson und André Wilms als tapferer Fleming geben sich gleich damit zufrieden, den Text in abgestuften Tonlagen einfach nur aufzusagen.

Auf daß die bloße Erschöpfung ab und zu eine überirdische Dimension bekomme, schleichen sich in gemessenen Abständen eine Sopranistin und Musiker auf die Bühne, um einige Takte der schweren, dissonanten Kompositionen Kurtágs zu Gehör zu bringen. Die Sopranistin trägt ein blaues Abendkleid mit nur einem Ärmel, die Musiker sind in bunten Fräcken und mit farbig transparenten Sonnenschutzschildern als Pinguine verkleidet. Eine antarktische Geisterstunde, die 60 Minuten später auch pünktlich zu Ende ist.

Johnson liegt jenseits der Bühne bäuchlings im Eis, Kingsley einen Steinwurf vom Zelt entfernt, Fleming und Scott erstarren im Zelt. Das Windrad auf einem der Skistöcke vor dem Zelt beginnt sich wieder zu drehen, und eine gleißende Linie wird senkrecht auf die Mitte der Rückwand projiziert. Filmende? Gottesstrahl? Ein bildlicher Seufzer?

Auch Klaus Michael Grüber hat sich mit viel zu dünner Kleidung ins Eis aufgemacht. Der Sehnsuchtspunkt Südpol leuchtet so rot als wie zuvor. Vorhang.

Heute und 4.10., 20.30 Uhr, Schaubühne, Kurfürstendamm 153